Alles nur zum Schein

EU Die Demokratie in Europa krankt an mehr als der Nominierung Ursula von der Leyens
Ausgabe 28/2019
Wer wird künftig diese Flagge verwalten?
Wer wird künftig diese Flagge verwalten?

Foto: Frederick Florin/AFP/Getty Images

Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokrat Frans Timmermans aus den Niederlanden oder sogar die dänische Liberale Margrethe Vestager? Am Ende schlugen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieder keinen der Spitzenkandidaten bei den Wahlen Ende Mai für die Führung der EU-Kommission vor. Stattdessen tauchte plötzlich der Name Ursula von der Leyen auf. Seither wird über Hinterzimmerdeals, das Spitzenkandidatenprinzip und das anstehende Votum des Europaparlaments zu von der Leyen diskutiert. Zu fragen wäre aber: Macht es überhaupt einen Unterschied, wer Kommissionspräsidentin ist?

Ursula von der Leyen könne Deutschland europäischer machen, hoffen die einen. Sie werde Europa deutscher machen, warnen die anderen. In jedem Fall gilt die noch amtierende Bundesverteidigungsministerin im Gegensatz zu ihrer CDU-Parteifreundin Angela Merkel vielen als leidenschaftliche Europäerin, fußend auf ihrem Geburtsort Brüssel und Äußerungen, in denen sie von einer „europäischen Armee“ und von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumt. Doch das sind beides leere Formeln.

Als leidenschaftlicher Europäer gilt schließlich auch Wolfgang Schäuble. Seine Vision von europäischer Integration aber beruht darauf, Politik Schritt für Schritt durch Regeln zu ersetzen. Eben dazu nutzte Schäuble als deutscher Finanzminister die Eurokrise – europäische Integration bedeutete hierbei, neoliberale Wirtschaftspolitik als ehernes Gesetz zu verfestigen.

Der Euro ist nach wie vor das eine Feld, von dem die Zukunft der EU abhängt, die Migration ist das andere. Was wäre diesbezüglich von Ursula von der Leyen zu erwarten? Wird eine von der CDU-Politikerin geführte EU-Kommission die europäischen Haushaltsregeln strenger durchzusetzen versuchen als ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker, insbesondere in Bezug auf Italien? Würde sie außerdem auf die „verstärkte Konditionalität“ gegen mitteleuropäische Länder setzen, wie Noch-EU-Kommissar Günther Oettinger es fordert, also Mittelkürzungen gegen eine Regierung verhängen, die sich zum Beispiel weigert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen? So jedenfalls würde diese Kommission noch mehr als Vehikel zur Durchsetzung deutscher Interessen in Europa wahrgenommen, als dies ohnehin schon der Fall ist.

Viel wichtiger als die Personalie von der Leyen ist die strukturelle Macht Deutschlands in der EU. Das heißt nicht, dass Deutschland immer seinen Willen durchsetzen kann, wie oft impliziert wird. Deutschland ist kein Hegemon, sondern ein Halbhegemon. Im institutionalisierten Kontext der EU heißt das in der Praxis, dass Deutschland mächtig genug ist, die Regeln zu bestimmen, nicht aber mächtig genug, um sie durchzusetzen. Die anderen Mitgliedstaaten dagegen sind nicht mächtig genug, die Regeln zu ändern, wohl aber sie zu brechen. Das war auch zuletzt unter dem Luxemburger Jean-Claude Juncker so, und es wäre unter keinem anderen EU-Kommissionspräsidenten anders gewesen.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob die Nominierung von der Leyens demokratisch sei. Schließlich birgt das Spitzenkandidatenprinzip jenes Versprechen, wonach die Bürger über den Chef der europäischen Exekutive in Wahlen entscheiden können. Doch diese Debatte lenkt von den eigentlichen demokratischen Problemen der EU ab. Denn ob der Spitzenkandidat der größten Gruppe im Europäischen Parlament automatisch Kommissionspräsident wird oder nicht, ändert nichts Wesentliches an der Struktur der EU-Institutionen, die ob ihrer Komplexität und Eigenlogik für jeden Demokratietheoretiker eine Herausforderung sind. Obwohl die Kommission eine Art von europäischer Exekutive sein soll, hat sie auch Machtbefugnisse, die eigentlich der Legislative vorbehalten sind. Das Parlament und der Rat sollen den zwei Kammern eines Parlaments entsprechen. Allein aber, welche das Unter- und welche das Oberhaus sein soll, ist unklar.

Mag die Beteiligung an der Europawahl dieses Jahr von 43 auf 51 Prozent gestiegen sein – die merkwürdige Struktur der EU führt dazu, dass vor allem zwischen nationalen Interessen, etwa im deutsch-französischen Streit über den Euro, und zwischen „Europäern“ und „Anti-Europäern“ debattiert wird. Eine europaweite Debatte zwischen links und rechts, etwa zu Veteilungsfragen, wie man sie von Demokratien auf nationaler Ebene kennt, existiert nach wie vor nicht.

In Europa besteht der Status quo darin, dass einer permanent regierenden Großen Koalition keinerlei Opposition außer der der „Anti-Europäer“ gegenübersteht. Einen Machtwechsel zwischen Regierungsparteien, je nachdem, ob sie Wahlen gewonnen oder verloren haben, gibt es nicht. Kurzum, es fehlt das, was gemeinhin als fundamentale Voraussetzung einer Demokratie gilt: die Möglichkeit, eine Regierung abzuwählen. Solange sich dies nicht ändert, wird die EU eine Scheindemokratie bleiben. Dabei ist nicht von Belang, wer künftig die Europäische Kommission führen wird.

Hans Kundnani, Autor des Buches German Power. Das Paradox der deutschen Stärke, forscht für die Denkfabrik Chatham House mit Sitz in London zu Europa und Deutschland

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