Angela Merkel spricht von einer „neuen Lage“, Stefan Mappus von einem „emotionalen Ausnahmezustand“. Aber soll man im Ernst daran glauben, dass die „neue Lage“ länger anhalten wird als der Nachrichtenwert der Schreckensmeldungen aus Japan? Wie lang ist die Halbwertszeit des „emotionalen Ausnahmezustands“ eines Stefan Mappus, von der Gefährdung seines Ministerpräsidentenamts einmal abgesehen? Und wenn es voraussehbar sein sollte, dass auch nach dieser Katastrophe alsbald wieder Normalität eintreten wird, – weshalb dann die ganze Aufregung?
Die Last einer kollektiven Überforderung
Da ist Furcht im Spiel, die Reaktion auf einen Schock und das Bedürfnis nach Entlastung. Wenigstens vorübergehend wird eine schwere Bürde abgeladen. Doch welche Last ist es, die im Ausnahmezustand keine Rolle mehr spielt, welche Einsicht wird dadurch befördert?
Es ist die Last einer kollektiven Überforderung. Diese uns allen gemeinsame, uneingestandene, aber quälende Überforderung ist die Verpflichtung, daran zu glauben, dass wir in der Lage seien, unsere Welt vermittels der Technik in den Griff zu bekommen, und mehr noch: diese Technik selbst, wo sie aus dem Ruder läuft, mit noch mehr Technik zu bändigen. Wir alle, selbst die Kernkraftfreaks, die Funktionäre und Aktionäre der Energiekonzerne, ahnen, dass dies eine Illusion ist. Dennoch daran glauben zu müssen, ist ein Bürde bis an die Grenzen der Überspannung.
Das aktuelle Beispiel spricht Bände: Japan gehört zu den am meisten durch Erdbeben gefährdeten Ländern der Erde. Weshalb stehen dort Atomreaktoren? Weil ein Beben der Stärke 9.0 im Bereich des Möglichen lag, aber statistisch nicht wahrscheinlich war. Genau darin liegt die Überforderung: die Menschen sollen an Berechnungen glauben, an methodische Rationalität, an Physik. Ihnen wird gesagt: die Wissenschaft kann das! Aber kann es auch der Mensch? In den ersten Meldungen über die ausgefallenen Kühlsysteme des AKW Fukushima-Daiichi war von jenem unseligen Kabel die Rede. Um die Kühlung wieder in Gang zu setzen, fehlte – so hörte man – ein Kabel! Wie konnte das sein?
Die Antwort ist naheliegend: Der Mensch und die Technik bilden eine Symbiose. Dabei kann die Technik kaum vollkommener ausfallen als der Mensch selbst. Das berühmte „menschliche Versagen“ ist keine zu vernachlässigende Größe, die man eines Tages eliminieren kann, sondern das zentrale Datum überhaupt. In jedem technischen Produkt „steckt“ der Mensch mittendrin, ganz so irrational, gierig, parteiisch und verrückt, wie er nun eben ist.
Religion der Ingenieure
So gesehen bauen Techniker und Ingenieure der Hochrisikotechnologie Sprengsätze in einem Wolkenkuckucksheim. Dort gibt es neben der perfekten Technik den perfekten Menschen. Es gibt dort keine Glaubensfanatiker, die einen Terrorangriff planen, und niemand kommt auf die Idee, eine objektive Gefährdung herunterzuspielen, weil ihm das Macht und Dividende bringt, niemand hat einen schwachen Tag, und niemand veruntreut, vergisst irgendetwas, was sich dann als überlebenswichtig herausstellt.
Solcher Realitätsverlust wird als angewandte Wissenschaft verkauft. Welche Kirche wird hier errichtet, welche Religion wird hier zelebriert? Experten verkünden dem Volk einen Glauben, welcher die Wahnideen der närrischsten Sektenprediger in den Schatten stellt. Doch um ihre Erfindungen anwendbar und sicher zu machen, müssten die Technokraten über ein Totalwissen sämtlicher Zusammenhänge auf diesem Globus verfügen. Sie müssten alles über den Menschen wissen, alles über seine schrägen Emotionen und abgründigen Affekte.
Selbstverständlich liest man nun, dass sich die japanische Betreiberfirma Tepco in der Vergangenheit durch die Fälschung von Dokumenten profiliert hat. Und vermutlich erklärt sich die ganz abenteuerliche Fahrlässigkeit im AKW Fukushima-Daiichi durch die Gier nach Dividende. Die Sucht nach Gewinn hat sich unter Anwendung geologischer Daten und der Wahrscheinlichkeitsrechnung in eine Selbstmordoption verwandelt.
1961 schrieb der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell: „Kann eine wissenschaftliche Gesellschaft fortbestehen, oder muss eine solche Gesellschaft sich unbedingt selbst zerstören? Ich halte es gar nicht für möglich, den Ernst der bösen Eventualitäten zu übertreiben, die in der Verwertung der Kernenergie schlummern.“ Natürlich meinte Russell nicht die Kernenergie als solche, er war gewiss kein Verächter der Physik. Auch rief er nicht wie Angela Merkel in diesen Tagen zur „Ehrfurcht vor der Natur“ auf. Die Blickrichtung seiner Besorgnis ging auf keine Natur, die uns quasi göttlich gegenüber steht. Sie richtete sich auf unsere eigene Natur.
Welche kolossale Last würde von uns abfallen, wenn wir nicht mehr jenem unseligen Machbarkeitsglauben anhängen müssten, dessen fundamentalistische Dogmen in diesen Tage brüchig geworden sind.
H.-P. Waldrich ist Pädagoge. Im Freitag schrieb er vor allem über die Psyche von Amokläufern
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