Sie ist phantastisch!", bejubelt die Teilnehmerin eines Internetforums der "Pro Ana"-Community das Foto einer auf dem Bett liegenden, spindeldürren jungen Frau. Angetan nur mit einem Slip präsentiert sich das Mädchen bis auf die Knochen ausgehungert ihren Webfreundinnen, von denen sie begeistert gefeiert wird. "Helft mir, so zu werden!", fleht die Teilnehmerin ihre "Ana"-Genossinnen an.
"Ana" steht für Anorexie. Aber nicht etwa eine Krankheit und die Aussicht auf frühen Tod sind hier gemeint, sondern ein Lifestyle. Hunderte von Websites dieser Art gibt es weltweit. In ihnen wird die Ästhetik der Magersucht zelebriert, die "Schönheit" der Anorexie als exzeptionell und bewundernswert gepriesen. Und jeder weiß: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch Mädchen und junge Frauen, die nicht der "Ana"-Religion anhängen, empfinden ihr Bedürfnis nach extremer Dünnheit sehr häufig als etwas Wünschenswertes und vollkommen Sinnvolles. Nach neuesten Daten leiden in Deutschland rund 600.000 Menschen zwischen 15 und 35 Jahre an Magersucht oder Bulimie. Die Zahl der Essgestörten, darunter auch zahlreiche Männer, geht in die Millionen.
Nun hat man dem Magerkeitskultus den Kampf angesagt. Im Rahmen der Ende 2007 gegründeten Initiative "Leben hat Gewicht" unterzeichneten unlängst Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Vertreter der deutschen Textil- und Modebranche eine Nationale Charta gegen den Schlankheitswahn. Öffentlich will man für ein gesundes Körperbild sensibilisieren und unter anderem allzu ausgezehrte Modells von den Laufstegen verbannen.
Doch welchen Gegnern hat man hier den Krieg erklärt? Soll eine ganze Kultur aus ihren Angeln gehoben werden? Seit Jahrzehnten unterliegt jeder, der auch nur gelegentlich in den Spiegel schaut, den Suggestionen einer allumfassenden Schlankheitspropaganda. Während es wissenschaftlich gesehen keineswegs gesichert ist, welchen Body-Mass-Index (BMI) man braucht, um gesund zu bleiben und alt zu werden, und das medizinische Idealgewicht möglicherweise um einiges über den allgemein propagierten Normen liegt, ist Schlanksein so etwas wie eine allgemeine Zwangsvorstellung. Wie wir auszusehen und uns körperlich zu präsentieren haben, steht dabei nicht im individuellen Belieben, sondern ist Ergebnis einer medialen Werbeschlacht von gigantischem Ausmaß. Es fragt sich: Wem gehört "unser" Körper, uns selbst oder der Lifestyle-Industrie? Dabei werden Gefühle der Unsicherheit, soziale Ängste, Selbstwertdefizite raffiniert verstärkt und in klingende Münze verwandelt. Kaum zu erwarten, dass man sich dieses prachtvolle Geschäft verderben lassen möchte.
Kinder und Jugendliche sind besonders anfällig für die einschlägigen Suggestionen. Mädchen nehmen in der Pubertät häufig plötzlich zu. Das ist normal und notwendig, denn die Erhöhung des Körperfettanteils hat mit dem weiblichen Hormonhaushalt zu tun und ist eine Voraussetzung für die Entwicklung der Fruchtbarkeit. Knaben bleiben in dieser Phase in der Regel schlank, erst im frühen Mannesalter beginnt auch bei ihnen die Gewichtszunahme. Für die heranwachsenden Mädchen folgt daraus nicht selten: Du bist zu dick! Über 30 Prozent der Mädchen in der Frühpubertät haben bereits eine Diätkur hinter sich.
Was können Regierungsinitiativen oder Verbote gegen solche Verhaltensweisen ausrichten? Der Schlankheitswahn ist ein Symptom für den Zustand einer Kultur - der kapitalistischen. Magersucht und Bulimie waren in früheren Jahrhunderten weitgehend unbekannt, Wohlbeleibtheit galt im Mittelalter als Statussymbol der oberen Stände. In Entwicklungsländern tauchten Essstörungen erst auf, nachdem Fernsehen und Werbung eingeführt wurden. Selbst in der DDR kam Magersucht eher selten vor. Erst die sich radikalisierende Marktgesellschaft entwickelte die wahnhafte Verzerrung des Körperbilds zu einem Massenphänomen.
Eher seltsam klingt daher, was der Geschäftsführer des Deutschen Modeinstituts Gerd Müller-Thomkins anlässlich der Unterzeichnung der Nationalen Charta äußerte: Er sieht es als die hervorragende Aufgabe der Modeindustrie, "das aktuell modische Styling auf die real existierenden Größenverhältnisse in der weiblichen Bevölkerung zu übertragen. Wir sehen uns einem realistischen Frauenbild verpflichtet."
Realismus? Welch überraschendes Programm. Besteht doch das Geschäftsgeheimnis der gesamten Mode-, Kosmetik-, Medien- und Körperkultindustrie, die Milliarden an der marktförmigen Zurichtung des Körpers verdient, in einem simplen Rezept: Propagiere nur solche Ideale, die im Grunde unerreichbar sind! Nur wenn die Messlatte für den marktförmigen "Body" immer ein wenig zu hoch hängt, ist Umsatz garantiert.
Weshalb aber spielen so viele mit beim Wettlauf um die dünnste Silhouette? "Lieber ein eckiges Etwas als ein rundes Nichts", liest man in einem "Pro Ana"-Forum. Beim extremen Schlanksein, insbesondere in der Anorexia Nervosa, geht es um Selbstakzeptanz. Im Hintergrund steht oft eine tiefe narzisstische Kränkung, die kompensiert werden soll durch den Wunsch, endlich etwas zu sein. Schaffe ich es, meinen Körper zu kontrollieren, bin ich stark genug, den "Body" rücksichtslos in die Idealvorstellung hineinzuzwingen, dann bekomme ich vielleicht die Zuwendung, die ich so notwendig brauche. Bei einer Mortalität von annähernd 15 Prozent ist der mögliche Tod akzeptabel, eine Konsequenz, die anorektische Models öffentlich vorführen.
Derartige Extremreaktionen sind Merkmale einer Situation, die alle betrifft. Denn in der Konkurrenz um die noch schrillere Verpackung ist vielen dabei jedes Mittel recht. Je radikaler die Märkte und das dazugehörige Marktverhalten auf sämtliche Gebiete des Lebens ausgedehnt werden, desto häufiger wird es daher zu Essstörung kommen. Auch Körperkult und Fitnessrummel werden zunehmen. Um den Marktidealen zu genügen, werden groteske Verrenkungen, herbe Eingriffe und allerlei mühevolle Anstrengungen für das "Bodyforming" und "Bodyshaping" auch weiterhin zum Massenverhalten gehören.
Ulla Schmidt kritisierte bei Verkündung der Nationalen Charta gegen den Schlankheitswahn die Werbung. "Populistische Verlogenheit" warf ihr daraufhin der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft vor. Die Werbung bilde "zu 99,9 Prozent keine abnorm schlanken Menschen" ab.
Damit trafen die Werbemacher im Grunde den Nerv der Angelegenheit: Was als normal oder abnorm gilt, ist eine Sache der Perspektive. Die Wahrnehmung der Verhältnisse steht uns jedoch nicht frei zur Verfügung. Was wir wahrnehmen und wie wir es beurteilen sollen, wird in von der Bewusstseinsindustrie entschieden. Anschließend können die so erzeugten Inhalte als Nachfrageimpulse zu Geld gemacht werden. Je abwegiger diese sind, desto einträglicher für die einschlägigen Investoren.
Hans-Peter Waldrich ist Autor des Buches Perfect Body, Körperkult, Schlankheitswahn und Fitnessrummel, PapyRossa, Köln 2004.
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