Chicago-Gangster oder Gemeinschaftswesen?

Soziobiologie Der Kampf um das Menschenbild im Zeitalter des Neoliberalismus

Wir alle und alle anderen Tiere sind Maschinen, die durch Gene geschaffen wurden. Wie erfolgreiche Chicagoer Gangster haben unsere Gene in einer Welt intensiven Existenzkampfes überlebt ... Auf Grund dessen können wir ihnen bestimmte Eigenschaften unterstellen. Ich würde argumentieren, dass eine vorherrschende Eigenschaft, die wir bei einem erfolgreichen Gen erwarten müssen, ein skrupelloser Egoismus ist."

Diese programmatische Stelle findet sich in dem 1976 erschienenen Bestseller des Oxforder Zoologen Richard Dawkins The Selfisch Gene (Das egoistische Gen). Die Kernaussage lässt sich so zusammenfassen: Der Mensch ist nichts weiter als eine "Überlebensmaschine" seiner Gene. Deren einziges Ziel besteht darin, eine maximale Reproduktionsrate sicherzustellen. Dazu gehen die Gene unbewusst aber von einer Kosten-Nutzen-Analyse aus: Zur Realisierung ihrer Ziele versuchen sie ihren Einsatz und ihre Investitionen möglichst niedrig zu halten, aber den höchstmöglichen biologischen "Gewinn" zu erzielen.

Bereits von seiner biologischen Anlage her ist der Mensch also ein Tier, das sich grundsätzlich nach dem ökonomischen Prinzip ausrichtet. Sein Gehirn kann als eine Art "Rechner" angesehen werden, der den eigennützigen Vorteil erkennt und die Wege zu dessen Durchsetzung ermittelt. Bekanntlich kann es dabei recht brutal zugehen. Denn das "schmutzige Geschäft der Evolution", so der amerikanische Evolutionspsychologe David Buss, habe dazu geführt, dass wir auch den Mord nicht scheuen, um einen Reproduktionsvorteil wahrzunehmen. "Wir alle sind die Nachkommen einer langen Linie von Mördern und Totschlägern. Mord steckt in uns." Die Evolutionsbiologie und die so genannte Soziobiologie haben in letzter Zeit eine Vielzahl solcher Schreckensmeldungen hervorgebracht. Bei dem Havard-Zoologen Edward O. Wilson (On Human Nature) oder etwa den deutschen Zoologen Wolfgang Wickler und Uta Seipt (Prinzip Eigennutz) kann dies nachgelesen werden.

Warum gibt es angesichts dieses negativen Menschenbildes aber dennoch so etwas wie Selbstlosigkeit, Liebe und zwischenmenschliche Solidarität? Weshalb helfen sich Menschen gegenseitig, weshalb opfern sie sich sogar in gewissen Situationen für einander auf? Die Antwort der Soziobiologie lautet: Sie tun es aus Eigennutz. Altruismus ist eine raffinierte Form von Egoismus, Selbstlosigkeit im eigentlichen Sinne gebe es nicht.

Dabei stellt sich freilich eine moralische Frage. Sollen wir uns aufgrund dieser genetischen Programmierung möglichst skrupellos und egoistisch benehmen und notfalls auch zum Mord schreiten, falls es uns auf Grund unserer Berechnungen nützlich zu sein scheint? Nein, so lautet die Antwort, Menschen hätten durchaus die Möglichkeit, sich moralisch zu verhalten und nicht unbedingt wie Chicago-Gangster - aber irgendwie natürlich sei es doch.

Die "spontane Ordnung" der Ökonomie

In den meisten Kulturen, nicht zuletzt in der christlich geprägten, sind Altruismus, Solidarität und soziale Gerechtigkeit seit Jahrtausenden tief verankerte Leitwerte. Ihnen wurde keineswegs immer entsprochen, aber man war der Auffassung, der Mensch sei zumindest seinem Wesen nach fähig, solchen Werten nachzueifern. Ein Nachklang findet sich in der Überzeugung einer Mehrheit der Deutschen, die am Sozialstaat festhalten will und sogar ein stärkere soziale Absicherung fordert.

Der verstorbene neoliberale Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat derartige Ideen, sofern sie auf Wirtschaft und Politik übertragen werden, - insbesondere die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit - als "Atavismen" kritisiert. Atavismen sind entwicklungsgeschichtliche Überbleibsel aus einer früheren Epoche der biologischen oder kulturellen Evolution. Vor Jahrtausenden haben die Menschen in kleinen Horden, Sippen und Familienverbänden gelebt. Damals sei der Gedanke eines bewusst betriebenen sozialen Ausgleichs, etwa die Verteilung der Jagdbeute unter Gleichheitsgesichtspunkten, für das Überleben noch sinnvoll gewesen. Unterdessen habe sich aber ganz ohne Lenkung und Planung der Menschen eine "spontane Ordnung" herausgebildet: die freie kapitalistische Marktwirtschaft. In ihr sei das Streben nach sozialer Gerechtigkeit schädlich, denn es verhindere den wirtschaftlichen Gesamterfolg, der nur durch eigennützige Individuen und rationale Nutzenkalkulierer vorangetrieben werden könne. Dies liege auch daran, dass niemand über das notwendige Gesamtwissen verfüge, um die Wirtschaft zu steuern. Der Markt jedoch führe die auf Eigeninteresse beruhenden Planungen der Einzelnen in optimaler Weise zusammen.

Der Mensch ist für den Kapitalismus also wie geschaffen. All seine Bestrebungen sind "ökonomischer" Natur, wenn auch mit biologischem Endziel. So ließe sich letztlich alles, was der Mensch tut, irgendwie in die Sprache der Biologie oder der Wirtschaftswissenschaft übersetzen. Wie Menschen auch immer handeln: ob sie sich lieben, Gedichte schreiben oder ein Kind adoptieren; - immer verfolgen sie das Ziel einer eigensüchtigen Nutzensmaximierung. Eine Mutter "investiert" ihre Mutterliebe als "Anlagekapital" in einen Sohn, um dadurch eine "Dividende" in Form ihres Reproduktionserfolgs und vielleicht ihrer Altersversorgung einzufahren. Dass wir letztlich alle in dieser Weise Rechner und Kalkulierer sind, bleibt uns, so der amerikanischen Soziologe und Nobelpreisträger Gary S. Becker, der konsequent diese Sicht vertritt, allerdings zumeist unbewusst.

Neuerdings ist dieses Menschenbild jedoch ausgerechnet in die naturwissenschaftliche Kritik geraten. Alles schien so schön zusammenzupassen: die Evolutionsbiologie mit den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften und diese wiederum mit den realen Anforderungen der neoliberal interpretierten Ökonomie. Neuere Erkenntnisse der Genetik und Neurobiologie weisen nun darauf hin, dass auch das Gegenteil der dort aufgestellten Behauptungen richtig sein könnte. Es handelt sich um die Rolle der so genannten "reward systems", der Motivations- oder Belohungssysteme im menschlichen Gehirn.

Bei Menschen wie bei allen Säugetieren wird nämlich, wenn sie angenehme Erfahrungen machen, der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit erzeugt und den Organismus in einen Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft versetzt.

Egoistisches Gen oder social brain?

Wann aber erfolgt eine solche körpereigene Belohnung? Geschieht es, wenn wir im "struggle for life" unsere egoistischen Ziele gegen andere durchsetzen konnten? Vermittelt uns das Gehirn die Empfindung von Glück und Zufriedenheit, sobald wir im Sinne der egoistischen Gene einen erfolgreichen Weg zur Steigerung unseres Reproduktionserfolgs errechnet haben? Ist dieses Wohlgefühl zu erwarten, wenn wir die Dividende unserer Wertpapiere verdoppeln konnten?

Das mag gelegentlich der Fall sein. Doch zu einer Aussage über die Natur des Menschen reicht es aufgrund dieser neueren Forschungsergebnisse nicht aus. Regelhaft und mit großer Sicherheit sind wir dagegen glücklich, wenn wir eine gute und befriedigende Beziehung zu anderen Menschen aufbauen konnten, wenn wir erfolgreich eine soziale Bindung eingegangen sind. Der Freiburger Mediziner und Genetiker Joachim Bauer sieht den Kern aller Motivation darauf gerichtet, "zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung und Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind - aus neurobiologischer Sicht - auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen."

Neben Dopamin und gewissen körpereigenen Opioiden ist dafür ein bedeutsamer "Wohlfühlbotenstoff" verantwortlich, das Oxytozin. Es ist sowohl Ursache als auch Wirkung gelungener Bindungserfahrungen. Bereits der "Vater der Stressforschung", Hans Selye, hatte behauptet, nichts tue dem Menschen so gut wie die Liebe. Wolle man schädlichen Stress vermeiden, so gebe es ein sicheres Rezept: die Liebe. Demnach wäre unser Gehirn also keine Steuerungszentrale für eine Konkurrenz- und Überlebensmaschine, sondern eher ein "social brain", das entscheidend auf soziale Bindungen und auf Kooperation ausgerichtet ist.

Damit geraten einige Grundannahmen des soziobiologischen und neoliberalen Menschenbildes ins Straucheln. "Definitiv falsch", so Bauer, sei die Annahme, dass Gene gegeneinander konkurrieren. Die bedeutende amerikanische Biologin Lynn Margulis ist der Meinung, Begriffe wie "Konkurrenz" und "Überlebenskampf" seien menschliche Konstruktionen, die aus dem Wirtschaftsleben von außen in die Biologie hineingetragen werden. Die Biologie kenne kein Erfolgsdenken wie es die Wirtschaft beherrscht. Und während die Soziobiologen den Altruismus als eine raffinierte Variante des Egoismus ansehen, behauptet dieser neuere Ansatz umgekehrt, der Egoismus sei, recht verstanden, eine Form des Altruismus, stehe jedenfalls nicht im Gegensatz dazu. Was zunächst egoistisch zu sein scheint, so auch Aggressivität, sei in der Regel darauf gerichtet, auf Umwegen zum eigentlichen Ziel unseres Strebens zu gelangen: die Ausschüttung der ersehnten Botenstoffe - eine Belohnung, die dann eintritt, wenn Beziehungen gelingen und Menschen kooperativ sind.

Um die zentralen ethischen Ideen der Menschheit, Liebe, Selbstlosigkeit und Solidarität, ist es also gar nicht so schlecht bestellt, und sie müssen nicht zwangsläufig mit dem wirtschaftlichen Effizienzgedanken in Konflikt geraten. Von Hayeks Vorschlag, die Idee der sozialen Gerechtigkeit als Atavismus anzusehen, könnte unter Berücksichtigung der neueren biologischen Forschung sogar umgedreht werden: Sofern die "spontane Ordnung" einer neoliberal interpretierten Marktwirtschaft den Menschen Schwierigkeiten macht, liegt das nicht daran, dass die Menschen an überholten Vorstellungen festhalten. Umgekehrt ließe sich eine Wirtschaftsordnung als "atavistisch" deuten, die auf Prinzipien baut, die noch nie mit der menschlichen Natur harmonierten. "Zivilisiert den Kapitalismus!", forderte vor Jahren die ehemalige Chefredakteurin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff. Doch das ist noch zu kurz gegriffen. Angesagt wäre eine Humanisierung, beginnend damit, dass der Mensch das negative Bild von sich selbst durch ein positives ersetzt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Hans-Peter Waldrich

Aller Beschreibung spottend.

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