Überlebende

Früher war Blixa Bargeld auffallend dünn. Die Haut des Einstürzende Neubauten-Sängers Haut war ungesund blass, seine Augenringe waren schwer und seine Pupillen groß. Seine Haare schimmerten straßenkötergrau und standen wirr in viele Richtungen ab. Er trug enge schwarze Stiefel, eine enge Lederhose und einen komischen Gurt, der entfernt an einen Keuschheitsgürtel erinnertee. Das angemessen desolate Erscheinungsbild korrespondierte plausibel mit seinem Größenwahn. Er war eine Diva, die auf dem Trümmerhaufen thronte, den seine Band Stück für Stück für ihn errichtete. In Seele brennt flüsterte er: "Du fängst im Taxi an zu heulen, bloß weil ich sage, dass ich bei dem Konsum in zwei Jahren tot bin." Er bot keinerlei Anlass, ihm nicht zu glauben. Dann schrie es aus ihm heraus, als hätte er etwas Dunkles getrunken.

Doch schon bald sollte Blixa Bargeld sein Äußeres ändern. Der Körper wurde fülliger, die Haare wurden länger, und seine Lederkleidung legte er für immer beiseite. Fortan wurde er nur noch in maßgeschneiderten Anzügen gesehen und führte auf dem Kopf Florentiner-Hüte spazieren. Statt Augenringe trug er künftig schwarze Schleier, er rezitierte, statt zu schreien, er sang und trug feste Stimme vor. Die Diva gefiel sich plötzlich in der Rolle der Diseuse, selbst die Band lärmte nur noch verhalten. Es war, als hätte ein simpler Kostümwechsel des Sängers der gesamten Band Einstürzende Neubauten eine Richtungsänderung verordnet. Wie konnte es soweit kommen?

Als die Einstürzenden Neubauten sich am 1. April 1980 auf der Bühne eines Westberliner Clubs namens Moon gründeten, zählten Blixa Bargeld, Gudrun Gut, Beate Bartel und N.U. Unruh zu den Mitgliedern. Den vier fehlte zwar das für Instrumente nötige Geld, auch hatten sie weder ein Konzept noch irgendwelche Songs, doch im Windschatten von Punk spielte das keine Rolle. Ihre Konzeptlosigkeit erklärten sie zum Prinzip, zur Geräuscherzeugung verwendeten sie, was ihnen in die Finger kam. Also schleppten sie, was sie in Werkzeugschränken und auf Baustellen fanden auf die Bühne und klopften munter darauf herum. Musik war, was dabei heraus kam. Der Lärm war enorm, das Publikum zeigte sich begeistert. Hinterher sollte sich Bargeld das Motto zur Musik ausdenken: "Zerstöre die Harmonien und du zerstörst die sozialen Strukturen".

Es dauerte allerdings nicht lang, und der Krach bekam Methode. Auch das Besetzungskarussel kam 1983 vorerst zum Stillstand, fortan gehörten neben Blixa Bargeld und N.U. Unruh, Gitarrist Alexander Hacke, Bassist Marc Chung und Schlagwerker F.M. Einheit zur Band. Mit Elfer zimmerten sie seltsame Instrumente aus Schrott und Stahl und missbrauchten herkömmliche Instrumente entgegen ihrer eigentlichen Verwendung. Sie schrubbten mit Elektro-Rasierern über Gitarrensaiten, stopften Mikrofone in Fleischberge, übersteuerten Verstärker und flambierten Tonabnehmer. Doch die Musik gewann an Kontur. Aus dem formlosen Krach wurden erkennbare Stücke, aus den Einstürzenden Neubauten wurde eine Rockband mit anderen Mitteln.

Sie spielten auf Kunstmessen und Weltausstellungen und wurden als Kultur-Export vom Goethe-Institut durch die Lande geschickt. Sie waren Stars in Japan, sie gaben Konzerte in der Mojave Wüste und auf dem Dach der Fiat-Fabrik in Turin. Sie galten als die einflussreichste Industrial-Band und hatten bereits 1985 mit ihrem Album Halber Mensch die gesamte Wegstrecke von der Avantgarde - bis hin zur Pop-Band durchschritten. 1987 taten sie mit Fünf auf der nach oben offenen Richterskala einen Schritt zurück, 1989 folgte mit Haus der Lüge gewissermaßen der Halbe Mensch, Teil 2. Dann wusste die Band nicht weiter. Anschließend wechselte Blixa Bargeld das Hemd, wie auf ein Zeichen versucht die Band sich seither im Rahmen ihrer Möglichkeiten neu zu erfinden.

Auf Silence Is Sexy, dem Album zum 20jährigen Bandjubiläum, erinnert nur noch wenig an die Neubauten von damals, F.M. Einheit und Marc Chung sind nicht mehr dabei, der Lärm ist mittlerweile Zitat, und Blixa Bargelds wüste Endzeit-Lyrik ist nunmehr holprige Poesie. Aus den Krachmachern sind Soundforscher geworden, die mit Technik und Sachverstand alle möglichen Gegenstände auf ihre Akustik untersuchen. Statt von Energie, sind ihre Stücke heute von schwer nachvollziehbaren Konzepten geprägt. Sie haben sich abseits gestellt, sie haben an Spannung verloren, aber sie haben überlebtz. Immerhin.

Einstürzende Neubauten: Silence Is Sexy (Our Choice/Zomba)