Gehen wir in die Zukunft oder bleiben - verbleiben - wir?

Theaterrezension Anschluss im Abseits - Banden, Stadt und Eisenbahn ein spannender Diskursschwank in Strausberg

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Das seit Dezember 2022 laufende Stück Anschluss im Abseits – Banden, Stadt und Eisenbahn – Ein Diskursschwank von Matthias Merkle ist in der "Andere Weltbühne" im April und Mai 2023 weiterhin zu sehen.

Eine holprige, sandige Straße führt uns zum Theater. Die eigentliche Zufahrtsstraße ist dieses März WoE gesperrt und so leitet uns das Navi zu einem grün markierten Sträßchen parallel zu den Straßenbahnschienen in Richtung Garzauerstraße, der Heimat des besagten kleinen Off-Theaters. Schon hier beginnt so etwas wie eine Zeitreise, selten sind doch solche unbefestigten Straßen, es ist sogar eine Promenade, nach über dreißig Jahren Einheit noch innerstädtisch zu finden. In Strausberg gibt es solch Relikte und wir überlegten bei heftigem Schaukeln und Schwanken im Schritttempo, ob die Anwohner am Ende ein bisschen nachhelfen, falls ein Schlagloch sich gar selbstständig schließen wolle, es wieder zu vertiefen, um zu starken Durchgangsverkehr schlicht zu vermeiden. Wie auch immer, freilich ist davon wohl eher nicht auszugehen und doch genau um die Verhandlung der Fortschrittlichkeit, mit der Fragestellung liegt die Stadt Strausberg im Abseits oder im Zentrum der Innovationen, gibt es "mehr" oder eben nichts, kreist letztlich das Stück von Matthias Merkle.

Die Andere Welt Bühne in Strausberg lädt seit sechs Jahren in Ihre blau gestrichene Halle und die Theatergruppe hat auch schon so einige Bürokratismen erfolgreich durchfochten, um den Theaterbetrieb wie geplant weiter voran zu bringen und verwirklichen zu können. Der märkische Sand war dabei nicht immer nur auf dem Untergrund, sondern auch im Getriebe wichtiger Bauanträge z. B. für Gastresidenzen und andere bauliche Ideen. So mancher vehementer Presseeinsatz der Gruppe konnte dort die Getriebe schlussendlich etwas entsanden und in Bewegung bringen. Das Theater, inzwischen bei Strausberger*innen und Berliner*innen sehr beliebt, beschäftigt sich zudem thematisch immer mal wieder mit der Historie der Stadt.

Für Anschluss im Abseits recherchierte Merkle was vor 130 Jahren den Strausberger*innen beschieden wurde - b. z. w. eben nicht: Der Anschluss an die "Ostbahn", die das Garnisonsstädtchen an die große Welt angeschlossen hätte, wurde wegen der Nichtfinanzierung von 800 Metern Strecke nicht realisiert und somit fuhr die Zukunft sechs Kilometer südlich an Strausberg vorbei. Mit Kutschen wurde die Verbindung zu nächst hergestellt und die Straßenbahn, welche auch hinter dem Theater weiterführt, wurde später als Verbindungslinie eingeführt.

Kriminalistisch, mit vielen kleinen Schauplätzen der Zeit um 1893 entnommen, jagt im Stück ein Reporter - ein erster Demokrat und Vertreter der freien Presse - den Gründen der Verwehrung des Mehr - Wertes hinterher und hangelt sich durch Spekulation und nachweislicher Geschichte. Eine Liebesgeschichte und eine Kaisertreue, runden den Diskurs auf der Bühne ab. In immer wieder grotesk komischen Szenen werden Militarismus, Eigennutz, Fortschrittsglaube freundlich zerlegt, die drehbare Bühne wechselt die Szenen zwischen Wagon und einem Häuschen, wo die Balkonblumen nicht fehlen, um der Kleinbürgerlichkeit Ausdruck zu verleihen.

Merkle schafft es viele wissenswerte Entwicklungen der wirtschaftlichen Stadtgeschichte zu offenbaren und den Geist der Zeit einzufangen ohne in ihm Stecken zu bleiben. Flüssig und selbstverständlich wird hier der Text gegendert. Charmant gespielt von Melanie Seeland, als verlassene Frau, die um Ihre Unschuld, Ihr Einkommen und Ihr Glück am See kämpft, mit Timothee Dumont, der den wissensdurstigen Journalisten darstellt und mit seinem französischen Akzent daran erinnert, dass durch Strausberg deutsche, französische und russische Soldaten zogen, sowie Inga Diedrich, die als Kaisertreue Dame, deren Werte gekonnt und liebevoll überspitzt in Szene setzt. Die Regie von Paul Splitter, Musik und Ton von Jonas Albani, sowie die herrlichen Kostüme von Nafine Baske vereint im Licht von Tim Andresen und Dietrich Baumgarten, lassen dieses Stück zu einem spannenden, amüsanten und nachdenklichen Abendprogramm werden, welches wärmstens empfohlen werden kann. Zur Idee zum Stück selbst, erzählt Mathias Merkle, der neben Theaterstücke schreiben, Bühnenbau und in der Küche seiner Schmorpost vor den Theateraufführungen Leckereien zaubert, sei er letztlich durch den angeregten Austausch mit einen Strausberger Gast gekommen. Gerne unterhält er sich, als Zugezogener mit den Alteingesessenen und die Geschichte der Secundärbahn (besagte Straßenbahn, neben der Holperpiste und hinterm Theatergelände) ist durch diesen Austausch spannend aufbereitet auf die Bretter der Anderen Weltbühne gekommen.

Spieltermine 1.4. und 26.5.23 um 19.30h

Karten und Anfahrtsinfos unter: https://wasserwerk-theater.com/

Kleine Zeichnung zum Stück siehe Insta textfontana_hai

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Textfontana

Freie Journalistin, Bloggerin und Heilpraktikerin mit Schwerpunkt TCM. Themen Frauen-/Gesundheit, Kultur, Theater/Performances und Tanz.

*Würzburg 1966, seit 1987 in Berlin lebend. Selbstständig tätig im Gesundheitsbereich seit 1994. Journalistik Studienabschluss an der FJS Berlin 2019. Mitredakteurin bei bzw-weiterdenken.de seit 2019.

Textfontana

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