Der Krieg des russischen Imperiums

Ein barbarisches Abenteuer Kein sinnloser Krieg, sondern einer aus politisch historischer Sicht mit bitterem Geschmack und hoffnungsvollem Ende

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Von Sinn und Bewältigung eines barbarischen Abenteuers

Hörten wir im Entsetzen über die ersten Kriegstage nicht das Wort vom sinnlosen Krieg? Soll, kann dem angegriffenen Opfer, dem UNO-Mitglied Ukraine, solidarisch beigestanden, Waffen geliefert werden, damit es sich helfe? Hat Russlands Putin, ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat der UNO, seinen Schlag gegen den schwächlichen Frieden lange vorbereitet, das Existenzrecht der Ukraine mit über 40 Mio. Einwohnern ausdrücklich getilgt, die Zivilbevölkerung als Objekt seiner >Sondermilitäraktion< kalkuliertem Terror unterworfen und nach monströsen Raubzügen geplant, eine reduzierte Bevölkerung im Sinn eines eigentümlichen Rechts verletzter Großmachtgefühle zu russifizieren?

Um es deutlich zu sagen, der >Krieg Putins< hat einen bitteren und tragischen Sinn. Und die Relevanz dieser imperialistischen Aggression mit weltweit gefährlichen Folgen für den Frieden ist schwerwiegend und übereinstimmend dokumentiert als ungerechter, völkerrechtswidriger Eingriff in den weltweiten Zusammenhang souveräner Staaten und als warnender Fixpunkt einer Zeitenwende. Ermittlungen, Untersuchungen von Kriegsverbrechen sind in Arbeit. Doch: Was tun?

Die heutige Staatenwelt ist in unterschiedlichem Maße mit Steuerungsinstrumenten ausgestattet, die sie benutzen, um die organisierten Märkte zu ihren Gunsten zu bearbeiten und zu beeinflussen. Der ‚Westen‘ entfaltet eine Doppelstrategie: Sanktionspolitik gegen Russland und Militärhilfen für die Ukraine. Die Staaten ermuntern sich zur Überwindung ihrer Spaltungen. Beitrittswilligkeit in ihr Militärbündnis NATO nimmt spontan zu. Aber die prägenden Widersprüche, national wie international, kommen erst nach Monaten seit Kriegsbeginn Ende Februar zögerlich in den politischen Blick. Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit treten konkret auf in den Institutionen der Gesellschaft, den Betrieben, Unternehmen einschließlich der Bürokratien. Tarifauseinandersetzungen, Streiks, ja die Einstellungen zu den Arbeitsverhältnissen und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaften luxuriöser Lebensweise und skandalöser Armut werden zu öffentlich beachteten Themen. Inflation, scheinbar beherrscht, erhebt erneut ihr wildes Haupt.

In der Politik kennen wir den Konflikt zwischen Meinungen, zwischen Anschauungen, die in den Milieus gesellschaftlicher Gruppen, Schichten und Klassen gebildet werden. Ihre Differenziertheit zeigt uns, dass die tragenden Interessen sowohl abgrundtiefe Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen aufweisen. Darunter treten vermehrt heute Konflikte auf, die als Zielkonflikte gelten. Im Anspruchsdenken, in den Handlungszielen ist oft genug weder das Risiko und der Weg klar mitgedacht, noch die Vielfalt der Verwirklichungsbedingungen tatsächlich bekannt, was sich störend auf allen Seiten bemerkbar macht.

Diese Tatsachen beinhalten also auch das enorme Risiko, das Putin mit seiner Aggression eingeht, die er propagandistisch bis zur offensichtlichen Lüge verschleiern muss. Er wird damit scheitern, wenn die Frieden suchenden Völker und Nationen mit den geeigneten Mitteln solidarisch dagegen halten, ohne der Versuchung zu erliegen, Schnäppchen mal nebenbei einzuheimsen. Es gibt natürlich solche Versuche der Trittbrettfahrerei auf dem russischen Zug, in dem mit unbeirrbarem Fleiß an Selbstschädigung gearbeitet wird. Der Selbstbetrug beginnt nicht erst mit der >Sondermilitäraktion<.

Russlands Großmachtstatus ernährt sich aus mehr rückständigen als fortschrittlichen Ressourcen. Der politische Wille verströmt Fäulnisgeruch, muffiges Großmachtgehabe und antiaufklärerische Propaganda, alles Dinge, die heute dem Fernsehzuschauer täglich frei Haus geliefert werden. Die Wirklichkeit in Russland und dort, wo Russland bestrebt ist Vorherrschaft auszuüben, kann daher nur durch extrem gewalttätige, terroristisch programmierte Gewalt charakterisiert werden, die durch die hochherrschaftlichen Bilder aus dem Kreml dem öffentlichen Nachdenken entzogen werden sollen .

Eine kleine Elite verfügt in großer Willkür ohne demokratische Kontrolle über ein gefährliches Arsenal von gleichgeschalteten Propagandaapparaten, Wirtschaftsvermögen, Polizei, Militär, Raketen, Atomwaffen, Rohstoffressourcen etc.. Putin und seine gewaltsam geformte Clique (Oligarchen) tragen seit etwa 24 Jahren die politische Verantwortung in einem wachsenden Terrorsystem, das imperialistische Großmannssucht befriedigt. Sie organisieren eine totalitär ausgerichtete Herrschaft faschistischer Machart, die fälschlich und verharmlosend als autoritäres, nationalistisches Regime apostrophiert wird. Das faschistische Element einer strukturellen sozialimperialistischen Herrschaft wird vor 60 Jahren in der Polemik zwischen der KPCh und der KPdSU von den Chinesen zur Sprache gebracht.1

In der Terminologie des Marxismus – Leninismus erklären die Chinesen, dass aus revisionistischen und reformistischen Ideologien bei den Funktionären der Partei, die unter privilegierten Lebensbedingungen arbeiten, das Bedürfnis einer Restauration des Kapitalismus entsteht. Seit Chruschtschows Verurteilung Stalins sei dies genau Zug um Zug geschehen, somit auf sozialistischer Basis die spontan wirksame Grundlage einer expansionistischen Außen- und Kriegspolitik gelegt wird, mit der die Umwandlung der UdSSR in ein >Militärzuchthaus< „für die werktätigen Massen“ einhergeht. Der im Transformationsprozess umprogrammierte Sozialismus sei ‚sozialimperialistisch‘ ausgerichtet und seine Herrschaftsweise als ‚faschistisch‘ zu charakterisieren.

Dieser Aspekt der Sache ist allerdings zu differenzieren von den Demokratisierungsversuchen Gorbatschows in der Endphase der Sowjetunion, als schließlich typischerweise der Geheimdienstler Putin als junger Hoffnungsträger russischer Demokratie Zügel der Macht in die Hände gelegt bekommt. An dieses Moment schließt wiederum das banalisierte deutsche Wort vom >lupenreinen Demokraten< und der leichtsinnig interessierten Rede von der russischen Demokratie an. Das Körnchen Wahrheit darin erschließt sich, wenn man sich in dieser Zeit mit den durchaus ermutigenden Entwicklungen einer kritischen Öffentlichkeit in Russland befasst.

Aus borniertem Eigeninteresse, während in Russland doch ziemlich zügig die Hebel staatskapitalistischer Machtausübung auf brutale Gewalt eingestellt werden, gehen der >Westen< und besonders Deutschland in der Praxis des politischen Geschäfts die gewohnten Trampelpfade aus der Zeit des Kalten Krieges. Sie knüpfen so an die Linie der Entspannung und der internationalen Zusammenarbeit an und beschweren sich auch nicht, als das korrupte Regime Putins steigende Kosten und gewisse Unannehmlichkeiten verursacht.

Es handelt sich hier um ein festgefügtes Syndrom unkritischer Blindheit, das konkrete Verantwortung immer nur als gutwilliges Tun und als alternativlos gelten lässt. Diese Politik wird auch gegenüber der Ukraine geübt, wo die Macht ebenfalls oligarchisch organisiert ist und ‚braune Flecken‘ nicht zu übersehen sind. Die spezifischen und blutigen Kämpfe der ukrainischen Bevölkerung für eine demokratisch zu fundierende eigene Souveränität (Maidan) machen den Unterschied. In Russland wird diese Tendenz gewaltsam und gezielt durch Putin unterbunden, indem er den Machtanspruch der räuberischen Oligarchen abschneidet, doch ihr Gehorsam unter Aufsicht des Geheimdienstes stellt und mit unternehmerischen Freiheiten belohnt. Das ist der Inhalt des russischen Staates, dem ein Minimum demokratischer Offenheit und Praxis fehlt.

Jene Blindheit besonderer Art fördert die Administration Putin in der Regel gezielt, indem sie mit der Behauptung vom Ende des Ost-West-Konflikts, des Kalten Krieges hausiert und hinsichtlich der Ausbeutung des ‚eigenen‘ Rohstoffreichtums Sonderkonditionen im internationalen Geschäft gewährt, die durch ‚private Steuer‘ im Korruptionsgeflecht Extraprofite ermöglichen. Das System ist räuberisch veranlagt und stiehlt sogar Weizen.

Was die Herausbildung der heutigen weltpolitischen Konstellationen angeht, ist die Stellung der VR China von Interesse. Im Unterschied zur spontanen Gläubigkeit eingefleischter Antikommunisten ist die Ähnlichkeit der chinesischen Entwicklung nach Mao Tse Tung im Vergleich zur sowjetisch-russischen genauer unter die Lupe zu nehmen.2 Der massive Han-Nationalismus, die Verbreitung von Korruption, Vetternwirtschaft, Großmachtstreben, Unterdrückung und Kontrolle von Meinungsvielfalt im öffentlichen Bereich, Schwächen und offene Ungerechtigkeiten im Bereich des sozialen Gefüges, Funktionsfähigkeit, Flexibilität und Lernfähigkeit des staatlichen Planungsapparates sind Erscheinungen, die mehr oder weniger öffentliche Erregung hervorrufen und allgemein bekannt sind, aber doch in einer relevanten und organisierten Oppositionsbewegung keine Gestalt finden.

Wir kennen noch die Initiativen der vertrauensvollen Bittsteller, die sich an die KP um Hilfe wenden, während sie von Kadern der Partei zynisch vertröstet und enttäuscht werden. Dieser Vorgang ist längst im Trubel der chinesischen Entwicklung untergepflügt und es bleibt die vor 40 Jahren von einem Liberalen prognostizierte >Instabile Zukunft< der VR China.3

Es handelt sich trotz aller konkreten Erregung doch nur um die unreifen Bedingungen für die Frage, ob sich China in einem schleichenden oder offen sichtbaren Prozess auf Kriegsabenteuer des russischen Beispiels einlassen wird oder schließlich seiner sozialen Verantwortung im Inneren einer riesigen multikulturellen Gesellschaft und durch politische Reformen gerecht zu werden versucht. Berührungen mit der Ukraine liegen auf der Hand, weshalb der ukrainische Hilferuf nach China volles Verständnis verdient und von manchem Beobachter leichtsinnig als völlig nutzlos abgetan wird. Man sollte China aber nicht in die winzige Gruppe der hörigen Vasallen Russlands zählen. Sein Abstimmungsverhalten in New York zeigt den Zwiespalt seiner Stellung.

Doch diese fällt ja nicht vom Himmel der ideologischen Auseinandersetzung unter den ‚Kommunisten‘, was bereits von Mao am Ende seines politischen Lateins beklagt wird und seit Übergabe der Macht an Deng Xiao Ping als organisierter Einfluss der ‚Chicagoer Schule‘ und ökonomische Erfolgsrezeptur nachvollziehbar zu beobachten ist. Spätestens mit dem gewaltsamen Ende der demokratischen Reformbewegung 1989 (Tian’anmen-Platz) sind die Hoffnungen der linken und liberalen Kräfte zugunsten >ökonomischer Effizienz< und nationalistischer Ideologien an die Ränder des politischen Spektrums verdrängt.

Um das Maß an Großmannssucht zu prüfen, ist perspektivisch die Parlamentarisierung der UNO und ihre weltöffentliche Repräsentierung nicht das schlechteste Instrument. Das belegen jedenfalls unsre Erfahrungen mit den Machthabern Donald Trump und Wladimir Putin, deren ideologische Schulung mehr Gemeinsamkeiten aufweist, als demokratische Träume zum Entsetzen der bürgerlichen Presse wahr haben wollen.

1 DIE NEUEN ZAREN Sozialistisch in Worten – imperialistisch in Taten Köln 1975. Mit besonderer Berücksichtigung der ‚Polemik über die Generallinie der kommunistischen Bewegung‘ zwischen 1963 und 1974

2 Schon relativ früh tut dies Horst F. Vetter, Chinas neue Wirklichkeit Ffm., NY 1983

3 Vgl. Vetter 1983:“Wissen wir doch nicht nur, daß die sich zusehends öffnende Schere zwischen einer steil ansteigenden Kurve materieller Erwartungen und einer um Vieles flacher verlaufenden Kurve ihrer Erfüllung schon immer eine der wesentlichsten Ursachen für soziale Unruhen gewesen ist, sondern auch, dass die Hinnahme eines totalitären und extreme Ungleichheiten produzierenden Herrschaftssystems besonders bei der jüngeren Generation auf die Dauer kaum noch vorausgesetzt werden kann.“ Vetter begründet diese These mit dem >Ethos der Kulturrevolution<, der Rebellion. Liu Xiaobo, verstorbener Nobelpreisträger, sieht unter der Jugend vorwiegend angepasstes Verhalten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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