Gefangen im Kapo-System

Unterdrückung Die angeblichen Selbstreformierungen unserer Ordnung sind schwächlich. Die Kommentierung von Fällen politisch motivierten Mobbings bewegt sich noch in den Anfängen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vorbei mit Herr und Knecht ?

Die Tatsache, dass der Mensch unter der von ihm errichteten Herrschaft sich Selbst und Seinesgleichen zum Sklaven seiner eigenen Niedertracht macht, dabei scheinbar einem Lockruf der Natur folgend, ruft wenig Verwunderung und nur mäßige Empörung hervor. Sogar die Existenz des halbwegs entwickelten demokratischen Rechtsstaats ändert daran erstaunlich wenig. So, als hättenunsrekulturellen Errungenschaften es versäumt, dieniedergedrückten wirkungsvoll zu schützen. Wo nämlich kritikfähige Öffentlichkeit ungenügend ausgebildet ist, verhallt der Empörungsschrei und das zum Objekt erniedrigte Opfer scheint im Vergessen zu versinken. Doch das täuscht, denn wir tendieren zu kämpfen.

Nur vordergründig wird der scheinbar hervorstechende Fall öffentlich bearbeitet. Als Beispielsei genannt die von der hessischen Koch-Regierung aus durchsichtigen Gründen gemobbten Steuerfahnder Rudolf Schmenger, Marco Wehner und das Ehepaar Feser. Sie waren ganz nah an den Schwarzgeldern der hessischen CDU in Liechtenstein und den illegalen Vermögensschiebereien in der Bankenmetropole Frankfurt a.M. Die "brutalst mögliche" Aufklärung des Ministerpräsidenten operierte mit manipulierten ärztlichen Gutachten und "schaltete" so die Steuerfahnder als unbrauchbare Querolanten aus. Siehaben bis heute keine volle Rehabilitierung erreichen können. Weitere Steuerfahnder gingen klein bei. Die perfide Technik anonymisierter Machtverwendung, in roher Form als Kapo-System bereits erprobt, schlug also umfassender zu und fixierte uns als äußere Beobachter nur auf die Spitze des Eisbergs.

In Bayern wird Gustl Mollath jahrelang in der geschlossenen Psychiatrie festgehalten, weil er angeblich ‚nur‘ durch die Justiz, und wieder mal faule Gutachter, entmündigt,enteignet, für paranoid erklärt wird. Er hatte den Nerv des weithin bekannten, noch von Strauß begründeten >Amigo-Systems< getroffen,als er seine Ex- Frau beschuldigte, an Schwarzgeldschiebereien der Hypo- Bank beteiligt zu sein. Seine Beschuldigungen stellten sich schließlich als wahr heraus. Jetzt soll, nach üblem Gezocke der schwarz-gelben Regierung des Freistaats, der Fall juristisch neu aufgerollt werden. Und genau darin stehen die Aussichten für den Demokraten Mollath, eine umfassende Rehabilitierung und Entschädigung für dengezielt betriebenen Raub seiner Freiheit und seines Eigentums zu erreichen, ausgesprochen schlecht. Die verfassungswidrigen Handlungen im Verantwortungsbereich der Landesregierung gelten als harmlos. Die kritische Öffentlichkeit begnügt sich mit einer angemessenen Aufklärung des „Skandals“.

Für den Gang der „Einzelschicksale“ wird von denen an der Macht jede Verantwortung bestritten und sie schlagen gegebenenfalls für sich noch Kapital daraus – in Form gerne geglaubter Lügengespinste.Die unverschämte Redensart „selber schuld“ ist häufig eine griffige Formel, die sicheinzufallen lohnt, wodie Flucht aus der Verantwortunggerechtfertigt und der Auseinandersetzung phantasielos aus dem Wege gegangen wird. Auch die Abwälzung auf die >unabhängige Justiz< ist beliebt, um politische Willkürakte freizusprechen. Das verhält sich alles so, als befänden wir uns in einem ursprünglichen Naturzustand, in dem die Feinheiten ausgebildeter Moral und Gerechtigkeit unbekannt sind. Aber genau hierauf müssen wir den größten Wert legen, wenn wir über den nicht prominenten einzelnen Fall berichten und dabei die wirklichen Zusammenhänge sozialen Handelns in's Auge fassen.

Existenzkampfam unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter

Nennen wir den HARTZIVJobber (fördern und fordern!), dem die Flucht in den politisch gewollten Niedriglohnjob gelungen ist, einfach Lars. Er kämpft als Paketfahrer um einen Lohn, von dem ihm monatlich zwischen 1200 und 1400 Euro als „verfügbares Einkommen“ bleiben. Nach 30 km Anfahrt: 5 Uhr Arbeitsbeginn im DPD-Depot mit Scannen, Laden des >Sprinter<, Kontrollen, Abfahrt in das etwa60 km entfernte Liefergebiet.Durchschnittlich vielleicht 150 Stopps täglich, Anzahl und Gewicht der Pakete nur als Knochenjob machbar. Das Verhältnis zu den >Kunden< kann nur frei nach Lust und Launem gestaltet sein, die Haftungsfrage wirft Lars als Zusteller und Abholer bisweilen und unverhofft in ein Haifischbecken.

„Abholungen“ sind mit unangenehmen, Freizeit fressenden Wartezeiten verbunden, Rückfahrt zum Depot, Abrechnung, Heimfahrt, Ankunft zu Hause 15 – 18 Uhr,je nach Saison, Sommer oder Winter.Durchschnittlich verfügbarer Stundenlohn 7 Euro,soziale Absicherung und Zukunftserwartung im „Armenrecht“ einer reicher werdenden Gesellschaft geregelt.

Zusätzliche „Aufgaben“: Reinigung der >Sprinter<, Fahrten in die Werkstatt,Auftanken. Polizeikontrollen, „Knöllchen“ gehen ins Geld und gefährden auf Dauer auch mal den Führerschein. Bei 12 stündiger Arbeitszeit, sehr flexibler Bereitstellung der eigenen Arbeitskraft sind aus der Sicht von Lars Dauerermüdung, 'Sekundenschlaf', Unfallrisiko, schlechte Stimmung keineswegs zufällig.

Von Urlaub ist im Arbeitsvertrag keine Rede, kann aber mit Mühe ausgehandelt werden. Gewerkschaftliche Organisation der „Mitarbeiter“ ist in den boomenden Bereichen der globalisierten „Wirtschaft“ ziemlich unbekannt bis unbeliebt. Wir wissen aus TV-Reportagen einiges über die sklavenhalterischen, unwürdigen Arbeitsverhältnisse im Versandhandel und bei Paketdiensten des Transportgewerbes, über ferne Kindersklaven und die saubere Textil- und Nahrungsmittelindustrie.

Familie und die Sache mit den Schulden

Lars lebt getrennt von der Mutter seines jetzt 5-jährigen Sohnes. Er zahlt entsprechendseinem Einkommen „Unterhalt“und möchte als Vater, trotzschwieriger Arbeitszeiten und getrennten Wohnens, einen positiven emotionalen Bezug zu seinem Sohn pflegen. Auf dieser Ebene bahnen sich regelmäßig kräftezehrende Konflikte an. Dadie Mutter als >Studierte< verständlich eine verlockendere Lebensperspektive sondiert,auch mit dem Gedanken eines Ortswechsels spielen mag, weg aus der nordhessischen Provinz, blicken wir auf die Realität der modernen Familienillusion mit ihrenpsychischen Beschädigungen..

Der Sohn beispielsweise hat unter der Regie der >alleinerziehenden Mutter<bereits gelernt,unter Weinkrämpfen den emotionalen Annäherungsversuchen Lars gegenüber ungewollten Zwiespalt auszudrücken: „Geh weg, ich will dich nicht mehr sehn!“ Diese Geste kann nach intensivem Toben im Schwimmbad, nach einschmeichelndem, nett anzusehendem Spiel mit der älteren Cousine harmlos weiter bestehen. Er sagt dann nur gekonnt: „Ich muss jetzt dringend mal raus“ aus dem Wasser. Der elaborierte Code entfaltet seine Lebensgeister.

Zweimal in 10 Jahren genoss Lars eine „Überzahlung“ von Sozialleistungen. Ganz anders als die Hetze gegen die „Sozialschmarotzer“ behauptet, behandelt er mangels Massesein konkretes Schuldenproblem mit gespannterZurückhaltung, was als erzwungene Vogel – Strauß – Politik anzusehen ist. Mit Hilfe der AWO in Bebra (Arbeiterwohlfahrt als sozialdemokratische Version der Solidarität) und familiärem Beistand hat er jedoch bescheidenSchuldenabbau betrieben. Aber das konnte die üblen Erfahrungen mit der Inkasso-Mentalität der Gläubigergemeinde nicht verhindern.

Die letzte „Überzahlung“ landet automatisch in der Vollstreckungsabteilung des Kreisausschusses Bad Hersfeld.Und zwar zu einem Zeitpunkt,als er bereits einige Wochen im Laufschritt Pakete ausliefert, seine ersten Löhne für unmittelbar anstehende Verpflichtungen und für die Erhaltung seines Lebens verbraucht.Seine Schulden auf dem Vollstreckungskonto erhöhen sich wieder mal automatisch. Pfändungsankündigungen(der virtuelle Gerichtsvollzieher steht freundlich drohend in der Wohnung), zuzügliche Gebühren machen aus der Rückforderung des Sozialamts von etwa 325 Euro, einschließlich einer weiteren kleineren Gläubigerforderung, schließlich eine „Gesamtforderung“ von mehr als 750 Euro, ein Fass mit vielen Löchern.

Das kommt Lars spanisch vor, denn er hat in Raten und auf entsprechenden „Druck“,den der „Sachbearbeiter“ des Inkasso-Büros der Kreisverwaltung durch Sperren seines Kontos ausübt, zwischenzeitlich an den anonymen Moloch des „Vollstreckungskontos“ 380 Euro gezahlt. Zum unmittelbar, ohne Gerichtsbeschluss, wirksamen Eingriff (Pfändungsrecht) in die Kontonutzung eines auf kaltem Wege entmündigten Konto-Inhabers wären einige deutliche Bemerkungen angebracht. Merkel und Co. haben als Gesetzgeber und Exekutive ihren Teil der Verantwortung.

Aber bleiben wir bei Lars. Wer sind die zusätzlichen Gläubiger in der Größenordnung von 400 Euro,die hinter dem „übergeordneten Aktenzeichen“ (ÜAZ) stehen? Seit über einem halben Jahr sucht er vergeblich eine Antwort zu bekommen. Das belastet, schränkt eigenverantwortliches Handeln ein wie der unzuverlässig gezahlte Hungerlohn ohne Kulturkomponente. Ein wenig selbstbewusstes Leben am Rande der Gesellschaft ist möglich.

Im Kontrast ist der Schutz selbstherrlichen Wirkens braver Bürokraten im System angelegt, aber nicht absolut, sollten sie auf eigene Rechnung arbeiten. Dem Panzer der Apologie solcher Zustände jedoch, die von erhabenen Ideologen vom Schlage Sarrazins kommentiert werden, ist mit rechtlichen Mitteln oder moralischen Argumenten nicht mehr beizukommen.

Lars bekommt mit voller Härte zu spüren, wie eng Arbeit und Wohnen miteinander verzahnt sind und wie der Energielieferant ohne Pardon seine Forderung einzutreiben versucht.Auch die Eintreiber wissen, dass die >Energiewende< als Spießrutenlauf für eine wachsende Zahl Betroffener,zu denen sie auch mal selbst gehören, veranstaltet wird.Die Dinge passen mal wieder toll zusammen. Gerade als Lars aus Kassel wegzieht,spart der „Subunternehmer“des DPD-Depots sich die Auszahlung eines Monatslohns, die städtischen Werke AG stellen eine saftige >Schlussrechnung<für Strom, Gas und „Wärme“ aus.

Aber es genügt nicht, dass Energie heute „teuer“ ist. Lars landet in einem eigenartigen „Mahn- und Vollstreckungsverfahren“, das seine Frechheiten aus der Drohung mit dem „Gericht“ und dem Entzug der "Kreditwürdigkeit" bezieht. In diesem „Verfahren“ wird alles sehr schnell teuer, weil für einseitige Diktate zusätzliche Zahlungen anfallen,vergleichbar den unverschämten Zinsen für „Dispositionskredite“ bei Banken. Abzüglich gezahlter Abschläge kam die reine Energielieferung auf eine Restforderung von etwa 570 Euro.

Beim telefonischen Versuch,über Ratenzahlung und Vermeidung unnötiger Kosten (Sperrungen !) das Problem in den Griff zu bekommen, schmettertedie anonyme Stimme aus der Stadtwerke AG in Kasel verständnislos, wütend Lars ab: „Sofort zahlen, zahlen, zahlen !“.So kommt schließlich für Mahnkosten, Sperrankündigung, Sperrkosten, Wiederinbetriebnahmekosten,Zinsen aufRatenzahlungeine Forderung von über 200 Euro auf den Preis für gelieferte Energie hinzu. Das sind runde 30 Prozent, die bei uns der untertänige Bürokrat seinem sprachlosen Opfer zusätzlich auf den regulär politisch gewollten, überhöhten Energiepreis aufzuzwingen versucht. Heinrich Mann hatte schon früh die potenzielle Gefährlichkeit des armselig lächerlichen, aber durchaus herrschsüchtigen Untertans erkannt.

Kein Schlusspunkt unter offenen Rechnungen

Soviel steht fest: Das Einklagen des nicht gezahlten Lohns auf „Armenrecht“ in unserm Land dauert.Forderungen von Gläubigern, mit „Druck“ durchbehördliche Inkasso-Büros weiter gegeben,müssen als Existenz bedrohende Gefahr angesehen werden.Nur mit großem Kraftaufwand ist dieser Bedrohung zu begegnen. Überprüfung, ob solche Verfahren den hergebrachten Vorstellungen von Gerechtigkeit genügen, kann auch in den Fallstricken der von den Mächtigen gemachten Gesetze und Verordnungen und den wirtschaftlichen Widersprüchenlanden.

Die Überschuldung der Städte und Gemeinden treibt die Verwaltungsbürokraten an, den Konflikt zwischen Einnahmen und Ausgaben, die Regulierung der Kosten für Kindertagesstätten, Schulen und Kulturangebote auf repressive und vor allem unverschämte Weise zu lösen. Symptomatisch für dieses repressive Milieu in der >Dokumenta Stadt Kassel< ist die Schließung von Stadtteilbibliotheken, Schwimmbädern gegen die Bedürfnisse von >Bücherwürmern< und Freizeit, Erholung suchenden der Wohngemeinden.

Esläuft also fast auf ein Kunststück hinaus, sollte es Lars, Gustl Mollath und vielen anderen gelingen, aus den Teufelskreisen unseres legalisierten Kapo-Systems herauszukommen. Aber auch etwas Hoffnung zeichnet sich ab: Dem im Dienste der Telekommunikation agierenden „privaten“ Inkasso-Büro aus Bayern genügt der Hinweis, Lars werde bei einer bereits technisch nicht mehr funktionierenden, zwangsweisen Vertragsfortführung und den damit anfallenden Gebühren wirtschaftlich „ruiniert“,um den Gang zum Amtsgericht zu meiden. „Einsparung“: Ca. 300 Euro. Auch der bayerische Verfassungsverstoß im Falle Mollat ist unwiderruflich vom Bundesverfassungsgericht festgestellt und macht ein wenig Hoffnung.

Das stützt unsre Auffassung vom Zögern der Herrschenden beim anti-demokratischen Zugriff. Und trotzdem handelt es sich nur um schwächlichen Optimismus in unserem ständig gefährdeten demokratischen Rechtsstaat. Er muss überhaupt erst noch substanziell gepflegt und gestärkt werden, soll er nicht, wie die Freiheit als höchstes Gut, zur beliebig handelbaren Ware verkommen.

Da es sich beim Gegenstand unserer Beobachtungen nur um einen kleinen Ausschnitt aus der sozialen Realität unseres Landes handelt, kann man die schwere Aufgabe und besonders die Notwendigkeit der nur solidarisch zu bewältigenden Abwehr der ernsten Angriffe auf die menschliche Würde ermessen. Die Angriffe allerdings sind auf uns alle gerichtet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden