KUNST AG - Künstlerschicksal ?

Biennale von Venedig Ist es ein hintergründiges Experiment, ein Zeichen der Zeit, dass die Besucher dieser berühmten Kunstausstellung den Vorlesern von Marxens DAS KAPITAL lauschen können ?

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Unter der Herrschaft des Kunstprodukts der modernen Gesellschaft, dem Kapitalverhältnis, geht es in Venedig um einen erneuten Befreiungsversuch aus der Zwangsjacke des Fetischismus

„Ich stelle Ideen aus, nicht Waren“. Okwui Enwezor (*1) lässt hier anklingen, was Ausstellungsmacher bewegt. Hans Eichel (*2) schneidet in seiner Geschichte der Kasseler documenta die öffentliche Darbietung von Kunstwerken und deren sich verändernde Austauschformen an; die herrschende Politik mit dem geplanten ‚Kulturgutschutzgesetz‘ sieht genauer auf die Eigentumsverhältnisse, - nachdem wir Zeugen der skandalisierten Nazi-Raubkunst Affäre waren (Fall Cornelius Gurlitt). Beim diesjährigen ‚Event‘ in der Lagunenstadt geht es angeblich um eine Art Gegenpol zum ‚Hyperkapitalismus‘ des Kunstmarkts.

Enwezor: Intention sei ‚didaktisch‘ vor allem gegen den apolitischen Schein der Kunstwerke gerichtet und nicht den ‚privaten Interessen‘ des Marktes verhaftet. Er agiere somit im Interesse der Öffentlichkeit. Gerade in einer Zeit tiefen Unbehagens genüge es nicht, Kunstwerke bloß zu präsentieren. Aktuell sei es nötig, kritische Ideen, die auf Veränderung gegebener Verhältnisse zielen, in den reflexiven Gebrauch unsres Hirns zu nehmen. Dem ‚Hyperkapitalismus‘ setze er Das Kapital von Karl Marx (*3) entgegen. Auf diese Weise habe der Kunstinteressierte sieben Monate lang täglich Gelegenheit, Sprechern auf der Bühne zuzuhören, „wie sie emotionslos die trockene Wirtschaftstheorie von Marx herunterlesen“. Das sei „einfach toll“.

Der Kunstkurator möchte eine „klare Unterscheidung“ zwischen den Begriffen Idee und Ware geltend machen. Darin folgen wir ihm nur bedingt. Denn die Warenanalyse greift zum Seziermesser, weil sie wissen will, was die gesellschaftliche Warenproduktion den Individuen bedeutet. Insbesondere will sie herausfinden, welche gegensätzlichen Funktionen Ware erfahrungsgemäß im menschlichen Getriebe und den jeweiligen Lebensverhältnissen erfüllt.

Von Anfang an ist klar, dass von der Vielfalt der Warenwelt zu sprechen nicht heißen kann, einseitig über Dinge, ihre materielle Beschaffenheit, ihre Nützlichkeit, Schönheit u. s. w. zu palavern. In dieser Beziehung sind die Dinge, ob sie ihrer Natur nach materiell oder immateriell strukturiert, nur virtuell Waren. Ihre Form als Tauschwert wird im zu zahlenden Preis greifbar und vergleichbar mit den Preisen anderer Waren. Ihr Nutzen im Rahmen menschlicher Erwägungen ist jedoch eine offene, scheinbar dunkle Frage.

Und in dieser Hinsicht spiegelt die Tatsache, dass sie Menschenwerk sind wie der Mensch selbst, den historisch-kulturellen Prozess der Selbsterschaffung auf dem Hintergrund der Evolution wider. Waren tauchen gleichsam in diesem Prozess als Hieroglyphen auf. Sie wirklich zu verstehen, heißt, ihre Produktionsformen und -umstände herauszufinden, das Verhältnis der beiden Faktoren, die sie konstituieren, als Gebrauchswert und Tauschwert darzustellen und kritisch zu entschlüsseln.

Mit diesem Tun könnte uns allmählich dämmern, was hinter der ‚selbst verschuldeten Unmündigkeit‘ steckt, an der Aufklärung sisyphoshaft sich abarbeitet. Dieses mühsame Geschäft stellt die reale Verallgemeinerung der ‚brotlosen Kunst‘ als irrationalen Gegensatz dem teils hochpreisigen Kunstmarkt gegenüber. Hier ist die Existenz der Kunstproduzenten zunächst egal. Ihre Bedürfnisse, Nöte, Ideen treffen auf Mäzenaten, Liebhaber u.s.w., denen es lieber ist, Kunsttempeln eine finanzielle Basis zu verschaffen, als humane Probleme direkt aufzuarbeiten, - was nicht als Moralverstoß gelten muss.

Damit einhergehend ist traditionell besonders der Klub der ‚Superreichen‘ bemüht, seine Vermögen der natürlichen Entwertungstendenz (Konkurrenz) zu entziehen. So sind superteure Immobilien, Kunstwerke, Liebhabereien in dem Maße begehrt, wie ihr Erwerb in bequemer Weise das Gewissen täuschen kann. Denn Aneignung und Veräußerung ‚bleibender Werte‘ folgen der Illusion, den Leichengeruch der autoritär bornierten Produktionsweise vertreiben zu können.

Die kritische Idee befasst sich mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Und das ist auch der Grund, weshalb unser venezianischer Kunstkurator aus München die Analytiker (Analysten) Karl Marx und Walter Benjamin (*4) ins Spiel bringt. Hier wiederum flammt das so oft enttäuschte Vertrauen in aufklärerische Ideen auf, die periodisch neue Anläufe starten als geläuterter politischer Wille, um der Präsentation der Kunst einen vielleicht heilsamen Stachel zu verschaffen.

Die Hochkonjunkturen des Kunstbetriebs konfrontieren uns mit Kunstwerken im alltäglichen gesellschaftlichen Umgang. Aber verstehen wir diesen Schwall an Bild- und Tonmaterial? Was können wir über die Schärfung kritischen Bewusstseins hinaus tun, um die allgegenwärtigen Verblendungszusammenhänge zu durchbrechen?

Was zählt die Tatsache, dass wir im umfassenderen historischen Zusammenhang bei Platon, Aristoteles, Epikur tief in der Kreide stehen, gegen die durchtriebenen Sprüche von Vertragstreue und Pflichterfüllung, womit die Griechen gedrückt werden? Wie gehen wir mit der ambivalenten Tatsache des schleichenden Prozesses der Degradierung der lebendigen Arbeitskraft um? Warum gestehen wir uns nicht ein, dass eben unser Arbeitsvermögen als Ware auf Märkten gehandelt wird, und in spezieller Sklaverei der heute herrschenden Lebensverhältnisse münden kann? Wird dieser Prozess von den politischen Gewalten nur benutzt, um unsere Unterwerfung unter den Mythos der bestmöglichen, alternativlosen Welt festzuschreiben?

Sehen wir gelassen, dass es wohl die lebenden und arbeitenden Generationen sein werden, welche all die schwer wiegenden Fragen entscheiden, die um die Verbesserung der menschlichen Existenzbedingungen kreisen. Und genießen wir, zusammen mit den Besuchern der venezianischen Kunstausstellung 2015, für einen Moment trockene Wirtschaftstheorie zum Thema eines unwiderstehlichen Charakterzugs von WARE, ihrem Fetischcharakter.

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, dass sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne. Man erinnert sich, dass China und die Tische zu tanzen anfingen, als alle übrige Welt still zu stehen schien – um die andern zu ermutigen.

Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem Gebrauchswert. Er entspringt ebenso wenig aus dem Inhalt der Wertbestimmungen. Denn erstens, wie verschieden die nützlichen Arbeiten oder produktiven Tätigkeiten sein mögen, es ist eine physiologische Wahrheit, dass sie Funktionen des menschlichen Organismus sind, und dass jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. ist. Was zweitens der Bestimmung der Wertgröße zugrunde liegt, die Zeitdauer jener Verausgabung, oder die Quantität der Arbeit, so ist die Quantität sogar sinnfällig von der Qualität der Arbeit unterscheidbar. In allen Zuständen musste die Arbeitszeit, welche die Produktion der Lebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig auf verschiedenen Entwicklungsstufen. Endlich, sobald die Menschen in irgendeiner Weise füreinander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form.

Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch diese Vertauschung werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein anderes Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. …

Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. …“ (*5)

Im Zuge der Verallgemeinerung und Intensivierung der Warenproduktion findet nicht nur eine produktivere Organisation der Arbeitsverhältnisse statt, sondern auch ein tendenziell gleichmacherischer Vollzug der Arbeit, die mehr und mehr abstrakt wissenschaftliche Elemente in sich aufnehmen muss. Das macht unser Leben nicht automatisch irgendwie besser. Der Markt und der marktmäßige Austausch einer sich stetig erweiternden Produktpallette werden für die Schichten der Gesellschaft und das Individuum noch schwerer durchschaubar als in den ersten Jahrzehnten der industriellen Revolution.

Wenn nun von den „100 Mächtigsten im Kunstbetrieb“, oder von einer der reichsten Familien in Deutschland die Rede ist, der es gelingt, für einen Schadenersatz in Höhe von 20 Mio. Euro einen Kunsthändler durch Gerichtsbeschluss hinter Gitter zu bringen; von Galerien und Auktionshäusern (Sotheby’s und Christie‘s ) geradezu geschwärmt wird , die sich auf Impressionisten und Kunst des 20 Jahrhunderts spezialisiert haben, und innerhalb weniger Tage Milliardenumsätze machen, wenn wir also solche Nachrichten vernehmen, dann darf uns klar sein, dass es kaum ein Lebenszeichen gibt, welches nicht der Kapitalverwertung unterliegt. Oder dieses potenziell totalitäre Verhältnis anders ausgedrückt: Steht außerhalb von Nischenexistenz kein Quäntchen dieses Kunstprodukts der modernen Gesellschaft (Kapital) zur Verfügung, wird die Initiative von Menschen kaum nachhaltig Früchte tragen. Die allgemeine Verwertung von Kapital, von der hier auch mit Bezug auf den Kunstbetrieb die Rede ist, teilt sich den Arbeitenden wie den von der Arbeit Ausgeschlossenen als Notwendigkeit (zwanghaft) mit, an der Geld- und Schuldenverteilungsmaschinerie der Staaten teilzunehmen und teilzuhaben. Sie haben kaum noch ganz handgreifliche Produkte vor Augen, wenn sie in den gesellschaftlich-staatlich- anarchisch regulierten Veranstaltungen ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleichsetzen. Und sie fragen sich nicht selten unbewusst, inwieweit die Funktionen ihres Tuns ihnen in angemessener Weise klar sind.

Marxens Warenanalyse im politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang ist immer noch aktuell. Der Fetischcharakter der Waren darf als Lebensquell der Werbeindustrie gelten, da in ihn die kollektive Kompetenz der Menschen eingeflossen ist, ihr Handeln zu deuten. Politische Bewältigungsversuche der globalen Wirtschaftskrise erinnern an Bemühungen, den menschlichen Träumen auf die Spur zu kommen, um sie therapeutisch zu nutzen. Wir können jedoch nicht mehr, wie der eilend bemühte Marx im 19. Jahrhundert, von der ‚sinnenklaren‘ Erkenntnis ausgehen, dass der Mensch die Naturstoffe bloß in einer ‚ihm nützlichen Weise‘ verändert. Er tut mehr. Unter Umständen beschädigt er seine Existenzgrundlagen im ignoranten Wissen um die Tatsachen. Geld- und Finanzwirtschaft, mit denen das Moderleben des kapitalistischen Arbeits- und Politiksystems ( künstlich) verlängert wird, alimentieren den Kunstbetrieb. Sie sind offenbar noch nicht voll begriffen. In Venedig könnten mehrsprachige Lesungen Impulse zum Vorverständnis erzeugen. Allerdings: Der herrschenden Tendenz immer hinterher zu hecheln, um Zeit zu kaufen, genügt wohl nicht mehr. (*6)

(*1)Prominenter Manager des globalisierten Kunstbetriebs im Interview der Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 2015

(*2)Hans Eichel, 60 Jahre documenta Die lokale Geschichte einer Globalisierung, Berlin/Kassel 2015

(*3)Der erste Band (von 3) erschien 1867: Kritik der politischen Ökonomie Der Produktionsprozess des Kapitals

(*4)Walter Benjamin Illuminationen , Frankfurt a. M. 1969, S.148

(*5) Karl Marx Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie Der Produktionsprozess des Kapitals, Berlin 1961, S.76-78

(*6)Wolfgang Streeck Gekaufte Zeit Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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