Humor nach Plan - und darüber hinaus

Danke! Weiterlachen! 50 Jahre Ostberliner Kabarett "Die Distel"

Dass ein Kabarett sein 50-jähriges Bestehen feiern kann, wie jetzt die Ostberliner und nun Gesamtberliner Distel, gehört zu den seltenen Ausnahmen in der Kleinkunst. Sechs Jahre älter ist nur das Düsseldorfer Kommödchen, und vier Jahre haben die Westberliner Stachelschweine voraus.

Nach Kriegsende gab es geradezu einen Boom an Kabarettgründungen. Im Westen wurden viele ein Opfer der Währungsreform, und auch spätere Versuche hielten sich meist nur wenige Jahre. In Ostberlin schaffte es Frischer Wind von 1946 bis 1948. Im Ensemble damals noch Walter Gross, der später mit seiner Standardnummer des Jenossen Funzionär bei den Fronststadt-Insulanern populär wurde. Andere machten als Kleine Bühne weiter und wurden so zur Keimzelle der Distel. Die verdankte ihre Existenz vor allem dem nach Stalins Tod in der DDR verkündeten "Neuen Kurs". Ihrer Gründung vorausgegangen waren mit tierischem Ernst geführte Diskussionen zum Thema Humor, von der Zeitschrift Frischer Wind so kommentiert: "Man konnte den Eindruck bekommen, der Humor sei eine höchst problematische Zusatzauflage für den Volkswirtschaftsplan 1953 - etwa wie Margarine, Keks oder Fahrzeugersatzteile. Bei eifrigen Erörterungen in den Betrieben, der Presse, der Verwaltung wurde er zur scharfen Waffe ernannt und zum entscheidenden Hebel; er wurde als stehende Frage aufgestellt, durchdiskutiert, gefordert, eingeplant und schließlich gar gefördert ..."

Zur Premiere ihres ersten Programms am 2. Oktober 1953 konnte Die Distel demnach jubeln Hurra! Humor ist eingeplant! Gestichelt wurde nach Ost und West. "Drüben" lieferten Restauration und Wiederaufrüstung genug Angriffsflächen, im eigenen Umfeld Bürokraten, Schönfärber, Phrasendrescher und Versorgungsmängel. Prominente Gäste im Ensemble waren Robert Trösch, der schon in Erika Manns Pfeffermühle mitgemischt hatte, Ruth Berghaus als Choreographin sowie Hanns Eisler und Paul Dessau als Komponisten. Texte lieferten sogar Günter Kunert, Jurek Becker und Manfred Bieler. Für Kontinuität sorgten ein stabiler Autorenstamm und langjährige Zugehörigkeit der Schauspieler zum Ensemble. Ein Markenzeichen der Distel blieben bis heute Nummernprogramme, bei denen man sich auch der Mittel des Theaters und der Musik bedient.

Nach dem Bau der Mauer durfte die Erkennungsmelodie allerdings nur noch instrumental gespielt werden. Hatte doch Distel-Gründer Erich Brehm zum vielversprechenden Auftakt noch gereimt: "Die Distel blüht zum Spaße / im Zentrum von Berlin! / Am Bahnhof Friedrichstraße, / da sprießt sie kess und kühn! / Als echt Berliner Pflanze / möcht sie noch schöner blühn, / und sie jeht dabei aufs Janze, / aufs Janze, / aufs Janze, / ja die Distel jeht aufs Janze / aufs janze - Berlin!". Nun war aber das Zentrum von Berlin an den Rand gerückt. Gleich hinter dem Bahnhof Friedrichstraße, wo das Kabarett als damaliger Untermieter des Verbands der Deutschen Journalisten im Haus der Presse neben dem Metropol-Theater ein Domizil gefunden hatte, stieß jetzt die Hauptstadt der DDR an eine Grenze.

Besucher aus der anderen Hälfte von Berlin wurden seltener und mussten bald wie noch weiter westwärts beheimatete Gäste gelegentlich feststellen: In der DDR lacht man anders. Für manche Begriffe und Pointen brauchten sie sogar einen Übersetzer. Etwa wenn da ein Distel-Mime seinen "verlorenen Klassenstandpunkt" im Fundbüro sucht. Ein solcher Verlust sei doch nichts Besonderes, tröstet ihn dort der Beamte. Die Regale seien voll solcher Fundstücke. Man hebe die verlorenen Klassenstandpunkte eine Weile auf und verkaufe sie dann an den Antikhandel, der Rest werde im Parteilehrjahr versteigert. Und wenn einer der meist recht einfallsreichen Programmtitel Vom Ich zum Wir - einmal hin und zurück lautete, wussten wohl nur DDR-Bürger, dass damit an eine in den fünfziger Jahren vielstrapazierte Losung erinnert und gleichzeitig angedeutet wurde, dass die angestrebte Wandlung vom Individual- zum Kollektivwesen nicht gelungen war.

Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein lieferte der Distel ständig Material. "In der Presse jagt ein Erfolg den anderen: Es wird immer schwieriger, zwischen Erfolgen und heroischen Triumphen zu unterscheiden", stichelte man gegen die Berichte über die DDR-Wirtschaft. Medienkritik war überhaupt ein durchgängiges Lieblingsthema, selten fehlte eine Fernseh-Nummer. Zum wiederholt aufgespießten Thema der Preußen-Renaissance hieß es einmal: Dass die alten Herrscher zu neuen Ehren kämen, sei eigentlich kaum noch verwunderlich, wo doch "unsere Hofberichte schon ganz majestätisch tönen". Solch Spott hinderte die Kabarettisten allerdings nicht, gelegentlich selbst auf ihre Art Majestät Erich zu huldigen. Ein vielleicht notwendiger Tribut, den man, wie mit der obligaten "West-Nummer", zollte, um sich dafür dann wieder kritische Spitzen gegen Missstände im eigenen Umfeld leisten zu können.

"Was ihr euch so traut", lässt in einer Szene des 25-jährigen Jubiläumsprogramms ein Distel-Autor einen aus München angereisten Satiriker anerkennend feststellen und gab damit auch einen Eindruck mancher Westbesucher wieder. Aber, so der bayerische Kollege weiter: "Bei uns da sitzt der Strauß im Publikum und wir greifen ihn an. Wie ist das nun, wenn von eurer Parteispitze einer im Parkett sitzt?" Antwort: "Dann greifen wir den Strauß trotzdem an." Der Hintergrund: Eigene Spitzenfunktionäre waren für die Distel stets tabu. Und nach Buhlen der DDR um internationale Anerkennung genossen selbst Kohl und Reagan diplomatische Schonung. Der Programmtitel Beim Barte des Proleten wurde 1958 nicht genehmigt, weil er als Anspielung auf den Spitzbart Walter Ulbrichts hätte verstanden werden können. Den ersten Distel-Direktor Erich Brehm, dem ein Magistratsbürokrat in diesem Zusammenhang "große ideologische Unklarheiten" bescheinigt hatte, kostete das seinen Posten. Trotzdem beschwerte sich Ulbricht auf dem berühmt-berüchtigten 11. ZK-Plenum der SED im Dezember 1965 erneut: "Und wenn in der Berliner Distel gesagt wird: ›Dass der und der noch da ist‹ und dann sagt: ›Ja, der ist noch da‹, womit ich gemeint war, brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn eines Tages ein Gewitter niedergeht über die Betreffenden ...".

Maulkörbe für die Presse glossierte Die Distel mit einer Redaktionssitzung der Zeitung Schöner Blick, in der vorgeschlagen wurde, das Blatt in Realer Blick umzubenennen, nichts mehr zu verschweigen und nichts mehr zu beschönigen. Nach der Anregung, nicht mehr als drei Wochen später zu melden, worüber das West-Fernsehen längst berichtet hat, wird freilich der Antrag, über die Neuerungen demokratisch abzustimmen, schnell verworfen: "Wir richten uns nach der Mehrheit der anderen Presseorgane".

Wir handeln uns was ein: Der Titel des Programms mit solchen Ketzereien wirkte neun Monate später fast wie eine Vorahnung. Das nächste Programm kam nicht über eine mit standing ovations bedachte öffentliche Generalprobe hinaus. Vorausgegangen war schon ein langes Tauziehen zwischen Dramaturgie und Zensoren von der Abteilung Kultur des Ostberliner Magistrats und der Bezirksleitung der SED. Ideal auf Abwegen hatten die Autoren Inge Ristock und Hans Rascher ursprünglich ihr Projekt genannt. Ein personifiziertes Ideal wurde mit der Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus konfrontiert, offen über die Ausreisewelle gesprochen und sogar Gorbatschow zitiert: "Sozialen Fortschritt kann es nur geben, wenn man alle Fehler und Mängel schonungslos aufdeckt." Und im Programmheft - nach dem Verbot ein Schwarzhandelsobjekt - hatte man zur philosophischen Absicherung des endgültigen Titels Keine Müdigkeit vorschützen neben Marx, Engels und Bebel auch Kant bemüht: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

Ein Jahr später befreiten sich die Menschen selbst aus aufgezwungener Unmündigkeit. Für Die Distel bedeutete das Themenwechsel. Aktuell war nun der Widerspruch zwischen dem Ideal der Vereinigung und der Wirklichkeit des hereinbrechenden real existierenden Kapitalismus mit Ossi-Wessi-Konflikten. Zum Beispiel für Ausländerfeindlichkeit diente ein typisches Wendehals-Ehepaar. Des Vaters "Parteiposten war noch gar nicht richtig zusammengebrochen, da hatte er schon den ersten Unternehmensberaterlehrgang in Westberlin absolviert". Die Mutter wünscht sich von dort einen "dynamischen" gutbetuchten Schwiegersohn. Umso mehr regen sich beide auf, als der Sohn ganz andere nähere Disco-Bekanntschaften von sich und seiner Schwester als Kaffeebesuch ankündigt: Russen. "Als ob das noch nicht reiche", entsetzt sich die Mutter, sind es auch noch russische Juden, Asylanten. Schlussgag: Der Vater war zwanzig Jahre lang Bezirksvorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft.

Zu den "Wende"-Erfahrungen der Distel zählten der Zwang zur Personaleinsparung - von mehr als 60 auf 20 -, die Notwendigkeit der Preiserhöhung - kostete zur DDR-Zeiten der teuerste Platz 4,50 (Ost)Mark, so heute 19 Euro - und die Umwandlung von einer Magistratseinrichtung in eine GmbH. Eine Gesellschafterin, die kabaretterfahrene neue "Intendantin" Gisela Oechelhaeuser, stolperte über eine alte Stasi-Akte. Zensoren gibt es keine mehr - allerdings war Die Distel auch von der Abwicklung des DDR-Fernsehens betroffen: Ihre erfrischend frechen Auftritte im Scharfen Kanal fanden damit ein Ende.

Paradoxerweise bewahrte, dialektisch gedacht, gerade das Damoklesschwert drohender Verbote die Distel-Stacheln davor, stumpf zu werden. DDR-Nostalgie? Dann wäre die Erinnerung an Werner Fincks beste Kabarettzeit nach 1933 ("Gestern war die Katakombe zu, heute sind wir offen. Aber wenn wir heute zu offen sind, sind wir morgen wieder zu") Nazi-Nostalgie. Wie jeder Drahtseilakt wurde auch Satire in der DDR stets erst spannend, wenn sie bei der Balance zwischen Toleriertem und Nicht-mehr-Erlaubtem mit dem Anspruch, alles zu dürfen, das Absturz-Risiko auf sich nahm. Das prickelnde Gefühl, vor einem Parkett zu spielen, in dem es knistert, weil ein erwartungsvolles Publikum nicht nur auf jede Pointe, sondern auch noch auf bestimmte Worte, ja manchmal fehlende Worte sensibel reagiert, müssen die Kabarettisten seit der "Wende" gleich ihren Kollegen vom Theater missen. Und mit den Brüdern und Schwestern im Geiste aus dem Westen, von denen viele als Gratulanten zum Jubiläum erwartet werden, eint nun Die Distel die Erfahrung, dass Satire die Welt nicht ändern kann. Doch ohne sie wäre unsere kleine Welt ein bisschen trostloser. Berlin ist - wenn man trotzdem lacht! titelte schon 1959 ein Distel-Programm. Und mit anderen frühen Programmtiteln seien der Distel zum 50. Keine Ferien für den lieben Spott gewünscht und Danke! Weiterlachen. Der Titel des Jubiliäumsprogramms Ende offen lässt auf Vorwärts zu neuen Folgen hoffen.

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