Cottbus? Wo liegt das? - ist oft die Reaktion auf meine Bemühungen, Reklame für das Festival des osteuropäischen Films zu machen. Und wo man die zweitgrößte Stadt Brandenburgs kennt, dann mehr aus der Vergangenheit denn als Festivalort. Da gab´s den zungenbrechenden Cottbuser Postkutschenkutscher, da war mal der Energiebezirk der DDR, von dem noch der Name des immerhin Kickerfans geläufigen Fußballklubs geblieben ist, und jüngst machte Cottbus als Ort mit der geringsten Wahlbeteiligung im Lande von sich reden.
Dafür hörte man auf dem Festival um so mehr Elogen für die Stadt und ihr bedeutendstes Kulturereignis: aus ministeriellem und Sponsorenmunde und am gewichtigsten und nicht zum ersten Mal von dem großen kirgisischen Autor Tschingis Aitmatow, dessen Bücher und nach diesen gedrehte Filme in der DDR Kultstatus besaßen. Trotzdem fürchte ich, im Westen weiterhin auf geografische Unkenntnis zu stoßen.
Und wo liegt Slubice? Die Frage stieße auf noch mehr Achselzucken. Dabei hat es die polnische Grenzstadt bereits zu Filmehren gebracht: In Lichter von Hans-Christian Schmid spielt sie samt ihrem nur durch die Oder getrennten deutschen Gegenüber Frankfurt (das wiederum auch weniger bekannt ist als die gleichnamige Main-Metropole) eine Rolle. Und diesem Frankfurt verhalf auch schon Andreas Dresens Halbe Treppe zu internationalem Ruhm. Slubice war in diesem Jahr Partnerstadt von Cottbus, so wie im Vorjahr Gubin, das polnische Pendant zu Guben - wer erinnert sich noch dessen Apostrophs "Wilhelm-Pieck-Stadt"? Schon vor der EU-Erweiterung pflegt Cottbus grenzüberschreitende nachbarliche Beziehungen.
Slubice also war für einen Abend auch Festivalort. Teilnehmer des kinematografischen Osteuropa-Treffs unternahmen dazu eigens eine Expedition über die Oder und konnten dort einmal in einem richtigen Kino sitzen. Denn im Gegensatz zu Cottbus, das seit Jahren - einmalig für eine Festivalstadt - kein Kino besitzt (sieht man einmal von einem Multiplex jenseits der Stadtgrenze im Umland ab), weshalb diesmal die Stadthalle zu einem Ersatz umfunktioniert wurde, gibt es in Slubice ein Kino. Dank eines rührigen Betreibers, der vor dem Cinéphilentempel tagsüber Gemüse verkauft. Zu Ehren des Festivalbesuchs hatte er die Wände weißen lassen und ein richtiges Klo eingebaut. Da es aus einem einzigen Porzellanbecken besteht, bildeten sich davor lange Schlangen.
Die eigentliche Attraktion aber waren die beiden landeseigenen Cottbuser Wettbewerbsbeiträge, die hier vor zahlreichem heimischen Publikum ihre polnischen Premieren erlebten. Sukces... von Marek Bukowski: Ein Generationsporträt mit zwei Freunden um die Vierzig, die - wie originell - die gleiche Frau lieben. Manchmal etwas surreal, auch mit kurzen Tricksequenzen und dokumentarischen Momentaufnahmen, die den historischen Hintergrund markieren. Und dann Przemiany (Wandlungen) von Lukasz Barczyk: Das Psychodrama einer Familie, deren ihre Beziehungen vergiftendes Lügengespinst ein in die kleine abgeschottete Welt eindringender Außenseiter zerreißt. Auch das nicht neu, aber ein achtbares Langfilmdebüt.
Der Nachwuchs hat es in Polen nicht leicht, muss irgendwo Geld für seine Projekte auftreiben und gegen die Publikumserfolge von Historiendramen und Literaturverfilmungen der alten Regiegarde antreten. Wichtigster Coproduzent ist das Fernsehen. Manche Hoffnungen richten sich auf den EU-Beitritt. Auch da erweist sich das Cottbuser Festival als Vorreiter. Seit fünf Jahren bringt es unter dem Motto Connecting Cottbus Produzenten, Redakteure, Finanziers und Filmemacher aus Osteuropa und Deutschland zusammen, ebnet so Wege zu filmischer Cooperation.
Jedes Jahr ist der "Fokus" auf eine bestimmte Region gerichtet. Diesmal aus aktuellem Anlass der "Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen" auf Russland. Zwölf Spielfilme repräsentierten, wenn auch nur fragmentarisch, die Entwicklungen der letzten Jahre. Neben dem "Fokus" dominierten die Russen diesmal auch den Wettbewerb und räumten am Ende fast sämtliche Preise ab. Den Hauptpreis und Publikumspreis verdiente sich Lidija Bobrowa, die sich schon mit zwei vorangegangenen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten als liebevoll genaue Beobachterin ländlichen Lebens ihrer Heimat erwiesen hatte, mit Babusja (Großmütterchen). Nachdem sich die Titelheldin stets rührend um ihre Enkel gekümmert hat, wird die alte Frau, als ihre Tochter gestorben ist, vom Schwiegersohn in ein entferntes Dorf abgeschoben, wo sie aber nicht auf Dauer bleiben kann. Doch keiner der nun erwachsenen Verwandten möchte sie aufnehmen: Eine verstörende Konfrontation mit der neuen Gesellschaft, in der sich die alten Bindungen auflösen.
Der Regiepreis für Woswraschtschenije (Die Rückkehr) belohnte das eindrucksvolle Kinodebut Andrej Swjaginzews, der damit schon überraschend in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hatte. Als ein Vater nach jahrelanger Abwesenheit zurückkehrt und seine beiden Söhne zu einem abenteuerlichen Ausflug auf eine unbewohnte Insel mitnimmt, brechen hierbei Konflikte auf. Während der ältere der Brüder den Machismo des bisher Unbekannten bewundert, lehnt sich der Jüngere gegen dessen autoritäre Disziplinierungsmaßnahmen auf. Ein auch mit dem Preis der Ökumenischen Jury honoriertes, vielfach parabelhaft interpretierbares Drama mit berückenden Landschaftsaufnahmen und bewundernswerten schauspielerischen Leistungen der Kinder. Progulka (Der Spaziergang) erhielt den Spezialpreis für eine künstlerisch herausragende Einzelleistung und schien auch den Jurys der internationalen Kritikervereinigung FIPRESCI und des Interessenverbandes Filmkommunikation preiswürdig. Freilich ist der schlendernde Flirt der Protagonistin mit zwei um sie rivalisierenden Freunden, denen sie zufällig begegnet, kaum mehr als eine hübsche Liebeserklärung des Regisseurs Alexej Utschitjel an seine Heimatstadt St. Petersburg zu deren Jahrhundertjubiläum.
Schließlich ging auch der von einer eigenen Jury vergebene DIALOG-Preis für die Verständigung zwischen den Kulturen an einen russischen Beitrag, den politisch gewichtigsten aus dem "Fokus": Dom Durakow (Das Irrenhaus) von Andrej Kontschalowskij. Der aus Hollywood heimgekehrte bekannte Regisseur wählte als Ort seines im Vorjahr mit dem Grand Prix von Venedig ausgezeichneten Films eine Anstalt für geistig Behinderte, in die der Tschetschenienkrieg einbricht. Eine Metapher nicht nur für die nicht enden wollende kaukasische Tragödie, vermittelt dieser Film - mal pathetisch gesprochen - eine zutiefst humanistische Botschaft, wie sie heute vielleicht nur noch aus Russland auf die Kinoleinwand kommt.
Wenigstens der Preis der Cottbuser Studentenjury für den besten Debutfilm und eine Lobende Erwähnung durch die Jury der internationalen Filmklubvereinigung ging an Calin Peter Netzers Maria aus Rumänien: Die Geschichte einer Familie als Opfer des sozialen Umbruchs. Ein Thema, das immer noch eine Rolle im osteuropäischen Film spielt, wenn sonst auch immer mehr Privates in den Vordergrund rückt und junge Regisseure mit Stoffen aus jugendlichem Milieu mit jungen Protagonisten und oft viel Musik vor allem ein jugendliches Publikum anvisieren. Devcátko (Girlie) von Benjamin Tucek mit einer ziellos durch Prag treibenden Siebzehnjährigen war so ein Beispiel aus Tschechien, wo Ähnliches schon öfter im Kino reüssierte. Im nächsten Jahr ist dem Nachbarland der "Fokus" gewidmet.
Zu nationaler Identitätsversicherung dienen hier und da Ausflüge in die Vergangenheit. Nimed Marmortahvlil (Namen in Marmor) von Elmo Nüganen wurde mit einer patriotischen Hommage an den Unabhängigkeitskampf des Landes gegen die Russen 1918 in Estland zum teuersten und erfolgreichsten Film der heimischen Produktion. Ästhetisch anspruchsvoller blickt Oles Sanin in Mamaj zurück ins 14. Jahrhundert, als Kosaken Zwangsarbeit für Tataren leisten mussten, nach deren Niederlage gegen die Moskowiter aber zum Kern der ukrainischen Nation wurden. Die versöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem entlaufenen Sklaven und einer schönen Tatarin wird ganz in faszinierenden Bildern erzählt, die der poetischen Tradition des ukrainischen Films im Stile Dowshenkos, Iljenkos und Paradshanows folgen.
Bemerkenswert im diesmal mit über 100 Filmen stärksten Cottbuser Angebot auch noch Kordon von Goran Markovic´ aus Serbien: Eine aus Tätersicht psychologisch stimmige Erinnerung an den Polizeiterror gegen Anti-Milosevic´-Demonstranten im Frühjahr 1997. Für einen "Neuen serbischen Film bar jeder Politik, bar jeder Ideologie, bar jedes Kriegstraumas" spricht sich dagegen Milos Radovic´ aus und setzt mit der absurd-grotesken Komödie Mali Svet (Kleine Welt) seine eigene Forderung gleich überzeugend witzig publikumswirksam in szenische (Sur)Realität um.
Wie um zuletzt noch einmal die in aller Spannbreite qualitative Überlegenheit des osteuropäischen Films zu bestätigen, war als Abschluss nach der langen Preisverleihung eine unsägliche deutsche Produktion programmiert worden, die zynisch Asylantenschicksale auf dem Frankfurter Flughafen vermarktet. Bei offensichtlich angestrebter, aber verfehlter Verwandtschaft mit Emir Kusturica, dessen Drehbuchschreiber Gordan Mihic als Co-Autor zur Verfügung stand, blamierte sich Tor zum Himmel von Veit Helmer als dramaturgisch hilflose Mischung von wohl humorvoll gemeinten Unglaubwürdigkeiten, garniert sogar mit einer Prise Bollywood. Der Produzent stammt aus Cottbus. Wofür die Stadt nichts kann. Dafür hat sie sich als Mekka für den osteuropäischen Film bewährt.
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