Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Helmut Käutner: mit diesen Namen dürften halbwegs Filminteressierte etwas anfangen können. Wer aber kennt Walter Ruttmann, Willy Zielke oder Wilfried Basse? Der Grund für Kenntnis beziehungsweise Unkenntnis: die einen haben Spielfilme, die anderen Dokumentarfilme gemacht. Im öffentlichen Bewusstsein waren Dokumentationen - genauer: nicht-fiktionale Filme, der Begriff Dokumentarfilm setzte sich erst seit Mitte der fünfziger Jahre durch - immer die Stiefkinder der Kinematografie.Obwohl Wochenschauen, Kultur- und Werbefilme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts feste Bestandteile des Kinoprogramms bildeten und abendfüllende Dokumentarfilme sich in den letzten Jahren dort zunehmend einen Platz erobern konnten, von der Kritik wahrgenommen wurden und in einzelnen Fällen beachtliche Besucherzahlen aufwiesen. Seit Mitte der fünfziger Jahre boten ihnen zuvor vor allem die Festivals von Leipzig, Oberhausen und Mannheim ein Forum.
Während es eine umfangreiche Literatur zu Spielfilmen gibt, war der Dokumentarfilm in der Filmgeschichtsschreibung eine quantité négligeable, wenige Ausnahmen bestätigten die Regel. Für Deutschland wurde diese Lücke kürzlich geschlossen: durch eine dreibändige Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland von 2.037 Seiten, die als Standardwerk nur Töne höchsten Lobes verdient.
1896 bis 1918 gab es auf dem deutschen Filmmarkt knapp 9.800 nicht-fiktionale Filme, von denen nur 10 bis 15 Prozent erhalten sind. 1927 waren etwa 6.000 Kultur- und Lehrfilme, einschließlich französischer, britischer und US-amerikanischer, im Angebot. Und 1933 bis 1945, also unter dem NS-Regime, entstanden rund 850 längere und 11.000 kürzere Dokumentar- und Werbefilme, von denen zwei- bis dreitausend meist als Vorfilme im Kino eingesetzt wurden, neben circa 4.000 deutschen Wochenschauen - die Zentralisierung der fünf von verschiedenen Firmen angebotenen, inhaltlich aber ähnlichen Wochenschauen zur Deutschen Wochenschau geschah erst im Kriege. Da überwachte der Reichspropagandaminister Goebbels persönlich jede Ausgabe, aber schon vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Darstellung im Buch unterlagen alle Filme staatlicher Zensur.
Alle Untersuchungen stellen die Filme in einen zeitgeschichtlichen und kulturpolitischen Kontext, wobei die noch bis in die NS-Zeit geführten Diskussionen ihnen mehr Bedeutung beimaßen als sie in der Publikumsresonanz hatten. "Kulturfilm? Das ist der langweilige Film!", brachte ein Autor in den zwanziger Jahren die Meinung der Kinobesucher auf einen Nenner. Freilich, es gab Ausnahmen. Expeditionsfilme fanden Aufmerksamkeit, und 1925 macht nicht zuletzt ein Presserummel Wege zu Kraft und Schönheit von Wilhelm Prager zum berühmtesten Kulturfilm der Weimarer Republik. Die Propagierung von Sport und "Körperkultur" lag im Trend und ist in vielen filmischen Varianten nachweisbar bis zur ästhetischen Vervollkommnung in Leni Riefenstahls Olympia-Film.
Bis heute noch bekannter geblieben ist als prominentester deutscher Avantgarde-Film jener Jahre Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) von Walter Ruttmann, Vorbild einer ganzen Reihe auch ausländischer Großstadtfilme, die zum Teil sogar mit der Metapher Sinfonie im Titel warben. In seinem Buch Pioniere des Kulturfilms von 1956 bezeichnet der bereits in den zwanziger Jahren als Publizist und Verleiher tätige Oskar Kalbus Berlin. Die Sinfonie der Großstadt als "ersten deutschen Dokumentarfilm". Sein Schöpfer Walter Ruttmann konnte, wie fast alle "Filmpioniere" der Weimarer Zeit, von denen viele mit der politischen Linken sympathisierten, seine Arbeit unter dem NS-Regime kontinuierlich fortsetzen. Ihre widersprüchlichen Biografien und Filmografien werden im dritten Band der hier rezensierten Publikation ausführlich registriert: Zeugnisse einer Zeit persönlicher Zerrissenheit und Anpassung.
Ruttmann steht als Beispiel für "das Zusammenwirken von Faschismus, Moderne und Avantgarde". 1933 dreht er zunächst in Rom nach einem Drehbuch von Luigi Priandello einen Spielfilm über Arbeiter eines Stahlwerks, Acciaio, der wegen der Verbindung von fiktionalen und dokumentarischen Stilelementen als modernes Filmexperiment gewürdigt wird. Vielleicht sogar ein Vorläufer des italienischen Neorealismus wie später 1941/42 die ersten Filme von Rosellini und Visconti. Zurück in Deutschland, biederte sich Ruttmann erst einmal mit zwei Blut-und-Boden-Filmen an, machte bis zu seinem Tode nach schwerer Krankheit 1941 nicht zuletzt filmische Propaganda für die deutsche Rüstungsindustrie.
Die avantgardistischen Montagen im Film Das Stahltier (1935) missfielen allerdings der Reichsbahndirektion, die dem zuvor durch einen formal ungewöhnlichen Arbeitslosenfilm aufgefallenen Regisseur Willy Zielke zum hundertjährigen Jubiläum der Eisenbahn den Auftrag gegeben hatte. Auch Goebbels fand das Ergebnis "zu modern und zu abstrakt, es könnte ein bolschewistischer Film sein". Die Uraufführung fand erst 1954 in einer gekürzten Fassung statt. Zielke arbeitete nach dieser Niederlage als Kameramann für Leni Riefenstahl, auf deren Intervention hin er 1942 nach fünfjährigem Aufenthalt und Sterilisation aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen wurde. Nach dem Krieg bemühte er sich vergeblich um eine Anerkennung als Opfer des NS-Regimes.
Als einziger bekannter Dokumentarist erhielt damals Svend Noldan von den Alliierten Berufsverbot, was ihn nicht hinderte, ab 1952 wieder als Industrie- und Werbefilmer zu arbeiten. Der einstige Dadaist, Freund und Mitarbeiter Piscators hatte sich in den zwanziger Jahren auf Filmtricks spezialisiert, die er für die NS-Propaganda in den Filmen über den Polen- und Frankreich-Feldzug und das Machwerk Der ewige Jude nutzbar machte.
Als wandlungsfähig erwies sich auch Carl Junghans, der zeitweise sogar Mitglied der KPD war, für die Partei Wahlfilme herstellte und 1931 für ein Jahr nach Moskau ging. Am bekanntesten ist sein 1929 in Prag gedrehter Stummfilm So ist das Leben. Als Spezialist für Montage und Kompilationen lässt er sich von Goebbels´ Propagandaministerium für Filme über die Winterspiele 1936, den Spanischen Bürgerkrieg und für die Volksabstimmungskampagne zum "Anschluss" Österreichs engagieren. Nachdem seine Fallada-Verfilmung Altes Herz geht auf die Reise (1938) durch den Einspruch Hitlers verboten wurde, flieht er, nach eigenen Angaben wegen seiner jüdischen Frau und Beziehung zu oppositionellen Kreisen im April 1939 nach Paris und später von dort in die USA. Erst 1963 kehrt er nach Deutschland zurück.
Emigranten gab es unter Dokumentaristen weit seltener als beim Spielfilm. Das Gleiche gilt für den Exodus jüdischer Künstler. Zu den Ausnahmen gehört Friedrich Dalsheim, dessen in Bali gedrehter Film Insel der Dämonen als erster Film über eine fremde Kultur nach der NS-Machtübernahme mit großem Erfolg in die Kinos kam. Zuvor hatte er in Togo als Kamermann und Ko-Regisseur der Ethnologin Gulla Pfeffer bei ihrem einzigen Film Menschen im Busch assistiert. Da er als Jude in Deutschland keinerlei Arbeitsmöglichkeiten mehr sah, beging Dalsheim 1936 Selbstmord. Gulla Pfeffer war ein Jahr zuvor nach England emigriert.
Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zieht sich die politische Beeinflussung durch Kultur- beziehungsweise Dokumentarfilm wie ein roter Faden durch deren Geschichte. 1933 bildete da keineswegs eine Zäsur, auch in der Kontinuität der Produktion der verschiedenen Spielarten unpolitischer Themen, zumal noch 1941 140 meist kleine private Firmen Kultur- und Werbefilme herstellten. Auch wenn nicht immer nur die Leistungen des NS-Staates gepriesen und seine Ideologie verbreitet wurden, sondern manchmal bloß Ameisen oder Bienen über die Leinwand krabbelten, die allerdings auch für Analogien zur Volksgemeinschaft herhalten mussten - der obligatorische Vorfilm galt als politischer Gegenpart zum nur unterhaltenden Hauptfilm. Reichsfilmintendant Fritz Hippler charakterisierte ihn sogar einmal "als eine bittere Medizin, die man zwangsweise nur deswegen einnimmt, um danach in den Genuss einer gut schmeckenden Leckerei zu gelangen".
Von den 1.353 in der NS-Zeit produzierten Spielfilmen transportierten nur etwa 15 Prozent Propaganda im Sinne des Regimes. Auch die rund 600 aus dem Ausland, vorwiegend den USA, importierten Filme sorgten für Fluchten aus dem Alltag. Wirkungsvollstes Propagandainstrument, vor allem in der Zeit der Siege, waren die Kriegswochenschauen. Damals enthielten auch einige Spielfilme dokumentarische Sequenzen, zum Beispiel Wunschkonzert (1940) und das Durchhaltemelodram Die große Liebe (1942), dank Zarah Leander mit knapp 28 Millionen Zuschauern größter Publikumserfolg des NS-Kinos. Die hier erfüllte, von der Kritik häufig erhobene Forderung nach Zeitnähe war schon in der Weimarer Republik von den meisten Spielfilmen ignoriert worden. Ein realistisches Bild von den scharfen sozialen Gegensätzen zeichneten nur Eigenproduktionen von KPD und (in geringerem Maße) SPD.
Was bis 1945 und darüber hinaus an (vielfach einseitiger) Information, Wissensvermittlung, Blicken in ferne Welten und nahe Heimat von Kultur- und Dokumentarfilmen geleistet wurde, ist heute Domäne des Fernsehens. Das bedient sich für historische Kompilationen gern bei dem Material, das seine Vorläufer in Archiven hinterlassen haben. Trotz aller Manipulierbarkeit von Bildern, nicht zuletzt durch eine instrumentalisierende Kommentierung: der Dokumentarfilm ist das Gedächtnis - im besten Falle auch das Gewissen - einer Gesellschaft. Zwar endet die dreibändige Geschichte des Dokumentarfilms in Deutschland im wesentlichen mit dem Ende des "Dritten Reiches", abgesehen von einem Schlusskapitel Zur Wirkungsgeschichte von Kulturfilm und Wochenschau nach 1945, doch über die weitere Entwicklung gibt es genügend Literatur, nicht zuletzt aus dem Haus des Dokumentarfilms. Sie macht deutlich, dass, genau wie 1933, auch 1945 zumindest personell keine Zäsur bedeutete, weder in West noch Ost.
Ausgerechnet der Regisseur des Hetzfilms Der ewige Jude und Reichsfilmintendant Fritz Hippler führte, wenn auch im Vorspann wohlweislich nicht genannt, wieder Regie in dem ersten Dokumentarfilm über den Russland-Feldzug Beiderseits der Rollbahn (1953). Johannes Häußler, der schon mit einer von ihm 1924 gegründeten Vereinigung gegen alle "jüdisch-bolschewistischen Einflüsse" im Film kämpfte, konnte daran nahtlos anknüpfen, als er Anfang der fünfziger Jahre im Auftrag des Westberliner Senats antikommunistische Propagandafilme drehte.
Im Osten musste man dagegen für eine Fortsetzung der Arbeit eine unbelastete Vergangenheit vorweisen können. Kulturfilmexperten der UFA halfen dort der DEFA beim Aufbau ihrer populärwissenschaftlichen Studios. Richard Groschopp, anfangs auch international ausgezeichneter Amateurfilmer, ab 1936 bei der in Kultur- und Werbefilm aktiven Dresdner Firma Boehner Film und während des Krieges Filmberichterstatter bei den Propagandakompanien, drehte zwischen 1950 und 1967 elf DEFA-Spielfilme. Andrew Thorndike schließlich, von 1931 bis 1939 in der Werbefilmabteilung der UFA und 1942 Regisseur des Kulturfilms Die Herrin des Hofes, avancierte zum in den fünfziger und sechziger Jahren wichtigsten Dokumentaristen der DEFA und einflussreichen Filmfunktionär. Und auch das gab es: Der prominente Afrika-Forscher und -Filmemacher Hans Schomburgk, 1940 wegen einer jüdischen Großmutter mit Vortrags- und Auftrittsverbot belegt, erlebte sein Comeback mit dem Kompilationsfilm Frauen, Masken und Dämonen 1948 beim DEFA-Filmvertrieb. Bei der Plakatzeile Eine afrikanische Symphonie konnte man an Ruttmann und die zwanziger Jahre denken.
Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Hrsg.: Peter Zimmermann (im Auftrag des Hauses des Dokumentarfilms Stuttgart). 3 Bde. Gebunden im Schuber.
Bd. 1: Kaiserreich (1885 - 1918), Hg.: Uli Jung/Martin Loiperdinger.
Bd. 2: Weimarer Republik (1918 - 1933), Hg.: Klaus Kreimeier/Antje Ehmann/Jeanpaul Goergen.
Bd. 3: Drittes Reich (1933 - 1945), Hg.: Peter Zimmermann/Kay Hoffmann.
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005. 2.037 S., 779 Abb., 198 EUR
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