Die „Totalverweigerer“, die Bürgergeld beziehen, sollen zukünftig wieder mit Totalsanktionen bestraft werden können, wenn sie wiederholt ein Arbeitsangebot ablehnen. Durch diesen massiven Eingriff in die Grundrechte armer Menschen will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Rahmen der Haushaltseinigungen Geld sparen. „Es kann nicht sein, dass eine kleine Minderheit das ganze System in Verruf bringt“, sagte Heil, um damit seinen Gesetzesentwurf zu begründen.
Bis zu 170 Millionen Euro im Jahr erhofft sich das Arbeitsministerium durch diese Maßnahme zu sparen. 170 Millionen! Moment, kurz nachgerechnet … das wären ja mehr als 150.000 Menschen, die grundlos einen Job ablehnen und dafür die Höchststrafe von zwei Monaten T
Monaten Totalsanktion bekommen müssten. Kann das überhaupt hinkommen? Dafür müssten sich drei Prozent der Bürgergeldbeziehenden „willentlich weigern“, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Lassen Sie uns noch ein bisschen tiefer graben.Stichproben ergeben, dass knapp drei Prozent der Bürgergeldbeziehenden sanktioniert werden. Bei 70 Prozent der verhängten Sanktionen handelt es sich aber um Sanktionen wegen eines verpassten Termins beim Jobcenter, die restlichen 30 Prozent teilen sich in verschiedene Pflichtverletzungen auf. Nur bei einem Bruchteil davon handelt es sich um Sanktionen wegen einer abgelehnten Arbeit. Das weiß man auch im Bundesarbeitsministerium. Die Zahlen hat das Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB), das der Bundesagentur für Arbeit untersteht. In Heils Ministerium müsste eigentlich auch bekannt sein, dass selbst in Hochzeiten des Hartz-IV-Sanktionsregimes Totalsanktionen niemals auch nur ansatzweise eine solche Summe Geld ergeben haben. Gelinde gesagt ist diese Rechnung also an den Haaren herbeigezogen.Auch Andrea Nahles, die Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, sieht diese Hochrechnungen äußerst kritisch. Laut ihrer Einschätzung seien es maximal „einige Tausend“, bei denen Totalsanktionen überhaupt legal Anwendung finden könnten. Ob diese dann auch die gewünschte Reaktion herbeiführen, dass das Jobangebot angenommen wird, dafür möchte sie keine Prognose abgeben. Spätestens jetzt ist klar: Wieder einmal wird die Jagd nach Wählerstimmen auf Kosten der Ärmsten ausgetragen. Mit dem Ergebnis, dass ihnen das Existenzminimum – vollständig – gekürzt werden kann. Bereits die bisher zulässigen 30 Prozent Bürgergeldkürzungen sind als Sanktion hart, wenn man Löcher in den Winterschuhen und kaum genug zu essen hat. Da muss schon etwas ganz und gar nicht stimmen, wenn man eine Arbeit ablehnt. Klar ist, dass diese Sanktionen vor allem jene treffen werden, die aus Gründen eine Arbeit ablehnen: Sie leisten Pflege- oder Erziehungsarbeit und der angebotene Job lässt sich nicht mit dieser Care-Arbeit vereinbaren; sie befinden sich in einer akuten Krise und sind nicht in der Lage, ihre Post zu öffnen, haben einen schweren Schicksalsschlag erlebt; oder sie brauchen schlicht etwas Zeit, um einen sinnvolleren und besser passenden Job zu finden. Die Erwerbsmotivation ist hoch unter Erwerbslosen – das ist längst nachgewiesen.Nachgewiesen ist auch, dass unter Sanktionsandrohung angenommene Jobs häufig nur kurzzeitig ausgeübt werden. Das ergab zum Beispiel eine kleine Anfrage der Linksfraktion aus dem Jahr 2019. Aus der Antwort des Arbeitsministeriums geht hervor, dass rund 23 Prozent der Personen, denen durch das Jobcenter eine Stelle vermittelt wurde, innerhalb von drei Monaten erneut den Weg zurück ins Jobcenter machen mussten.Belege dafür, dass Sanktionen nachhaltige positive Effekte auf die Integration in den Arbeitsmarkt hätten, gibt es hingegen nicht. Zu dem Schluss kommt sogar der IAB-Forschungsbericht zu Sanktionen von November 2022, in dem zentrale Befunde aus Studien zu Sanktionen in der Sozialgesetzgebung ausgewertet werden. Selbst in diesem dünnen Forschungsbericht taucht zweimal explizit die aus Sicht der Sanktionsfans ungeliebte Wortkombination „keine Wirkung“ auf. „In diesen Studien konnten keine Wirkungen auf Arbeitssuchintensität und Anspruchslöhne nachgewiesen werden“, heißt es dort. Und: „Für Männer in Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften waren keine Wirkungen nachweisbar.“Doch viel skandalöser ist, dass die Forschung nicht nur keine, sondern sehr früh sogar die Negativfolgen von Sanktionen erkannt hat. Der IAB-Forschungsbericht erwähnt einen Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 2017. Das Ergebnis muss eigentlich erschüttern: In „einigen Fällen“ hatten die Sanktionen „schwerwiegende negative Folgen für die Lebenslagen“ der Sanktionierten. Es trat häufig eine „lähmende Wirkung“ ein; nur in seltenen Fällen hatten die Sanktionen eine erhöhte Anpassungsbereitschaft zur Folge. Die „erzieherischen“ Wirkungen von Sanktionen auf das Verhalten ließen sich nicht als „Aktivierung“ oder als Stärkung von Eigenverantwortung interpretieren. Aber davon einmal abgesehen: Natürlich gibt es in Ausnahmefällen „Totalverweigerer“. Aber kann die Antwort auf dieses Randphänomen tatsächlich sein, dass wir sie hungern lassen?Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht 2019 den Totalsanktionen mit einem Urteil einen Riegel vorgeschoben. Aber leider gibt es ein Schlupfloch: Wenn die „Aufnahme einer angebotenen zumutbaren Arbeit“ abgelehnt wird, sind 100-Prozent-Sanktionen möglicherweise zulässig. Denn damit habe es der Leistungsbeziehende in der Hand, seine Existenz selbst zu sichern. Tatsächlich können laut Gesetzesentwurf Totalsanktionen bei einer sehr eingegrenzten Personengruppe angewendet werden: Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag anbietet und der Leistungsempfänger ihn ablehnt. Dann gibt es bis zu zwei Monate lang keine Leistungen, so lange der Vertrag weiter vorliegt. Miete und Gas werden weiter gezahlt, damit Obdachlosigkeit nicht die Folge ist. Soweit die schnöde Theorie – denn manche werden vielleicht trotzdem lieber etwas essen wollen und so ihre Miete nicht zahlen können.Es könnte deshalb schwierig werden, das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht anzufechten. Tatsächlich werden sich die Probleme wahrscheinlich um die praktische Anwendung drehen: Ab wann oder bis wann lag das konkrete Arbeitsangebot zur Unterschrift vor? Wie sieht es bei Differenzen um bestimmte Konditionen wie Lohn, Arbeitszeit, Kinderbetreuung aus? Was, wenn die Bewerbung absichtlich nicht wahrgenommen oder in den Sand gesetzt wird oder wenn ein Job aus psychischen Gründen nicht angetreten wird?Es ist ein Trauerspiel, dass Arbeitsminister Hubertus Heil der völlig entgleisten Debatte um Sozialleistungen keinen eigenen, menschenfreundlichen Diskurs entgegensetzt. Sein Vorstoß in Form von Totalsanktionen ist nicht konstruktiv – es handelt sich eher um reine Symbolpolitik, um einige Wähler:innen sowie die FDP zu befrieden. Allerdings zeigt sich jetzt schon an Oppositions-Forderungen nach noch mehr Härte für Bürgergeldbeziehende, dass die Büchse der Pandora nun endgültig geöffnet ist.Schon seit langer Zeit wird mit gezielten Kampagnen gegen arme Menschen gehetzt. Die Gründe sind vielfältig. Aber ein Resultat davon ist ein florierender Niedriglohnsektor, der vom Zunder billiger Arbeitskräfte ohne Verhandlungsgrundlage profitiert. Die Gewinne schöpfen jene ab, die bereits in Wohlstand schwelgen. Der Steuersatz für Superreiche hat sich in den vergangenen 30 Jahren fast halbiert und große Erbschaften gehen quasi am Fiskus vorbei. Als Gesellschaft machen wir derweil mit Leichtigkeit den Abwärtsvergleich, während es geradezu verpönt ist, nach „oben“ zu gucken. „Wir werden statt Hartz IV ein unkompliziertes Bürgergeld einführen, das konsequent auf Hilfe und Ermutigung statt auf Sanktionen setzt“, verkündete Arbeitsminister Hubertus Heil bei Regierungsantritt der Ampel noch hoffnungsfroh. Tja. Das hat wohl nicht geklappt.