Kindergrundsicherung: Für wen gibt Lindner Geld aus? Für Unternehmen, nicht für Kinder
Familie Wer viel verdient, der erhält viel Kindergeld – und wer arm ist, bekommt wenig: Wie der FDP-Finanzminister eine Sozialreform verhinderte, die spürbar Geld an ärmere Eltern umverteilt hätte
Der größte Wahlverlierer der letzten Zeit bestimmt die Verkehrs-, und jetzt auch die Familien- wie Sozialpolitik
Foto: Christian A. Werner/Plainpicture
Ein kalter Schauer läuft einem über den Rücken: „Die Kinder sollen gar nicht arbeiten“, wirft ein Arbeitsminister in den Schlagabtausch zwischen einer Familienministerin und einem Finanzminister über die Kindergrundsicherung ein. Warum muss Hubertus Heil (SDP) seine Regierungskolleginnen daran erinnern, dass Kinderarbeit kein Ziel ihrer Politik ist?
Die kurze Szene ereignete sich auf der Bundespressekonferenz zur Kindergrundsicherung am 28. August, und Heils Erinnerung an das Kinderarbeitsverbot war eine Reaktion auf Christian Lindners (FDP) stete Wiederholung, das neue Modell sei keineswegs bedingungslos, sondern an "Erwerbsanreize" gebunden. Und hier steckt auch schon das Problem der „Einigung“ dieser Bundesregierung: Was als Grundsicherung f
erung für Kinder gedacht war, als bedingungsloser Schutz der Kinder in Deutschland vor Armut, ist nun doch stärker an die soziale Situation und das Einkommen der Eltern gebunden als die Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) dies geplant hatte.Bislang war es über alle Parteien hinweg Konsens, dass sowohl die finanziellen Lasten, die Eltern entstehen, als auch die elterliche Leistung von staatlicher Seite kompensiert werden. Schließlich zahlen Kinder die Rente der vorausgehenden Generation. Im bisherigen Modell erfolgte ein Ausgleich durch zwei Komponenten: Erstens das Kindergeld, das formal alle Familien erhalten, und zweitens die kindesbedingten Kinderfreibeträge im Einkommenssteuerrecht. Da Eltern dazu angehalten sind, ihre Kinder an ihrem Lebensstandard teilhaben zu lassen, wird davon ausgegangen, dass mit der Höhe des elterlichen Einkommens auch die Kosten für die Kinder steigen. Diese fiktiven Ausgaben für einen kindlichen Lebensstandard führen zu einer Entlastung bei der Einkommenssteuer. Da kindesbedingte Freibeträge erst in der jährlichen Einkommenssteuererklärung berücksichtigt werden, erhalten Eltern monatlich eine einheitliche Vorauszahlung: das Kindergeld.Dieses Modell stand schon lange als sozial problematisch in der Kritik, denn die Steuerfreibeträge bewirkten, dass hohe Einkommensgruppen besonders stark von den Freibeträgen profitieren – niedrige Einkommen erhalten lediglich das Kindergeld. Wenn die Familie von der Grundsicherung lebt, wird das Kindergeld als Einkommen des Kindes angerechnet. Der Grundsatz der Kompensation, nach dem ein Millionär mit Kind keinen Euro weniger haben darf als ein Millionär ohne Kind, erwirkte bislang eine gewaltige Umverteilung von unten nach oben und taugte zur Reduzierung von Kinderarmut nicht – im Gegenteil.Kinderzusatzbetrag ist einkommensabhängigMit der neuen Kindergrundsicherung wollte Lisa Paus einen Paradigmenwechsel einleiten: Auch an Bürgergeldbeziehende sollte sie bedingungslos ausgezahlt werden. Und neben einem bedingungslosen Grundbetrag für jedes Kind sollten Eltern eine einkommensabhängige Leistung nur bis zu einem festgelegten Höchstbetrag erhalten: je höher das elterliche Einkommen, desto geringer die Zusatzleistungen. Ab einem bestimmten Jahreseinkommen sollten sie ersatzlos entfallen. So der Plan, den Lindner in wichtigen Teilen blockierte.Was nun als Gesetz kommen wird: Der bedingungslose Grundbetrag soll – wie von Lisa Paus ursprünglich geplant – dem Kindergeld in seiner jetzigen Höhe entsprechen, also monatlich 250 Euro. Als großen Erfolg betont die Familienministerin, dass dieser an das soziokulturelle Existenzminimum angepasst wird. Sie meint damit, dass die Höhe alle zwei Jahre anhand des Existenzminimumberichts vom Statistischen Bundesamt überprüft und angepasst wird. Das ist sehr erfreulich – die Leistungen wären aber auch ohne Kindergrundsicherung an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst worden. So wird aus Kindergeld Grundbetrag, sonst ändert sich nichts.Die eigentliche Neuerung besteht nun in dem einkommensabhängigen Kinderzusatzbetrag. Dieser wird nach Alter des Kindes und Einkommen der Eltern gestaffelt. Dafür wird der bisherige Kinderzuschlag weiterentwickelt und, das ist ein Fortschritt: Auch die Kinder, deren Eltern Bürgergeld oder Sozialhilfe beziehen, werden in diese neu ausgestaltete Leistung aufgenommen. Der geplante Clou der Familienministerin war jedoch, dass diese Leistung für sie bedingungslos erfolgt – und genau damit konnte sie sich nicht durchsetzen. Nun wird Christian Lindner nicht müde zu betonen, dass hier Erwerbsanreize bestehen bleiben.Obwohl Paus und Lindner bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz von denselben Zahlen sprechen, geht ihre Perspektive auf die Einigung weit auseinander. Man muss schon sehr genau hinschauen, um zu verstehen, für welche Kindergruppen das neue Gesetz Verbesserungen bringt – und für wen nicht. So betont Paus, dass Teenager zwischen 14 und 18 Jahren, deren Eltern trotz Erwerbsarbeit Sozialleistungen beziehen („Aufstocker“) und die daher bislang zum Kinderzuschlag berechtigt sind, etwa 60 Euro im Monat mehr bekommen. Lindner betont, dass für die meisten Kinder, die bisher Bürgergeld bekamen, alles beim Alten bleibt. Lediglich die Null- bis Fünfjährigen würden zu den zwanzig Euro Kinderzuschlag acht zusätzliche Euro bekommen (in Zahlen: 8 Euro).Bei Alleinerziehenden sollen die Unterhaltszahlungen künftig nur zu 45 Prozent als Einkommen in die Berechnung des Zusatzbetrages einfließen. Ist das Kind älter als sechs Jahre allerdings nur dann, wenn der alleinerziehende Elternteil erwerbstätig ist und mehr als 600 Euro brutto verdient. Während Lindner hier von echten Verbesserungen spricht, wirft Paus ein, dass angesichts der meist geringen Unterhaltsmasse die Neuerung für nur wenige Eltern relevant werden dürfte.Auch die Auszahlung der Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets als Teil der Kindergrundsicherung konnte Paus nicht durchsetzen. Stattdessen können mit dem von Lindner favorisierten digitalen Kinderchancenportal Leistungen etwa für Schulausflüge beantragt werden. Bis zu dessen Realisierung sollen 15 Euro für Bildung und Teilhabe mit dem einkommensabhängigen Betrag der Kindergrundsicherung ausbezahlt werden; diese müssen zurückerstattet werden, wenn die Eltern nicht nachweisen können, dass sie den Betrag korrekt in die Freizeit der Kinder investiert haben. Nach weniger Bürokratie klingt das nicht.Familien werden entlang der Einkommenshierarchie ungleich entlastetUnd trotzdem ist von einem Systemwechsel die Rede, wieso? Weil es zukünftig nur eine Anlaufstelle für alle Kinderleistungen geben soll – indem Familienleistungen gebündelt werden –, den Familienservice der Bundesagentur für Arbeit. Hier wird der Anspruch für Familien errechnet und ohne Beantragung ausgezahlt. Dadurch, so Paus’ Hoffnung, kommen mehr Familien zu ihrem Rechtsanspruch – bisher tut dies nur etwa ein Drittel. Aus der Holschuld wird also eine Bringschuld, und darin liegt das Potenzial, Kinderarmut entgegenzuwirken – zumindest dann, wenn die entsprechenden finanziellen Mittel in einer Zukunft ohne einen FDP-Finanzminister einmal ausgebaut werden können.Pikant ist, dass die Kinderfreibeträge im Einkommenssteuerrecht, die dazu führen, dass Familien entlang der Einkommenshierarchie ungleich entlastet werden – also stärker entlastet, je stärker das Einkommen ist –, unangetastet bleiben. Warum werden sie nicht herangezogen, um die Kindergrundsicherung solide zu finanzieren?Damit haben grundsätzliche Verteilungsfragen die Reform nicht überstanden. Von den 20 Milliarden, die es nach Angaben der Forschung bräuchte, um Kinderarmut auszuräumen, wurden von Paus ursprünglich zwölf Milliarden für die Kindergrundsicherung vorgesehen. Diese wurden nun auf 2,4 Milliarden für das Jahr 2025 gedrückt. So bleibt für Lindner genug Geld übrig für die Entlastung der Unternehmen im Zuge des anstehenden Wachstumschancengesetzes.Mit der aktuellen Variante der Kindergrundsicherung kann Kinderarmut nicht verhindert werden, das räumte Lisa Paus selbst ein. Zurück bleibt ein ungutes Gefühl: Nicht die Leistung, die Eltern mit der Kindererziehung für die Gesellschaft erbringen, wird honoriert, vielmehr werden sie – und das meint unausgesprochen: Mütter – für die ausbleibende Erwerbsmotivation getadelt. Lindner betonte, mit der Einigung „ziemlich zufrieden“ zu sein. Kein Wunder: Die Frage, für wen der Staat Geld ausgibt, wurde liberal beantwortet. Für Unternehmen. Nicht für Kinder.