Armutsbetroffene werden durch Kinder nicht reich – sondern ärmer

#IchbinArmutsbetroffen „SOLCHE Leute sollten keine Kinder bekommen“: Diesen Satz hört unsere Autorin immer wieder. Woher kommt der Glaube, Armutsbetroffene wollten mit Kindern bloß mehr Geld abgreifen? Kleine Zerlegung eines hartnäckigen Vorurteils
Für Kinder, die von Armut betroffen sind, ist Freizeitgestaltung im Sportverein nicht selbstverständlich
Für Kinder, die von Armut betroffen sind, ist Freizeitgestaltung im Sportverein nicht selbstverständlich

Foto: Imago / Image Source

Als Kind hörte ich zum ersten Mal, dass armutsbetroffene Familien nur deshalb so viele Kinder haben, weil sie für sie Geld bekommen. Das hörte ich natürlich von Erwachsenen. Meist sagten sie das im Zusammenhang mit Menschen mit Migrationshintergrund, die mit mehreren Kindern einkaufen gingen. Ich fand das seltsam und auch die Abwertung in dieser Behauptung habe ich nicht verstanden, aber da ich das Vorurteil öfter hörte, glaubte ich es. Damals war ich 9 Jahre alt.

Heute bin ich 46 und dieses Vorurteil existiert noch immer. Ich kann ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass es eine Lüge ist. Wir Armutsbetroffenen bekommen das Kindergeld auf unser Einkommen angerechnet. Meine Tochter bekommt 250 Euro Kindergeld und 252 Euro Unterhalt. Von den 540 Euro bekommt sie, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft mit mir lebt, also nur 348 Euro ausgezahlt. Hinzu kommen seit Juli vergangenen Jahres 20 Euro Kinderbonus monatlich.

Nein, mit Kindern kann man sich nicht bereichern. Wer Kinder hat, hat ein höheres Armutsrisiko: Das Leben von Kindern kostet Geld! Das Zimmer kostet Miete und Heizkosten, das Essen kostet Geld, die Kleidung wird ständig zu klein und neue muss her, die Schuhe ebenso und sie brauchen auch Laptops, Tablets oder ein Smartphone, sollen sie bei der Digitalisierung nicht abgehängt werden. Die Anschaffung eines Computers für die Schule wird zum Glück seit Anfang 2021 mit 350 Euro bezuschusst, allerdings ist die Antragstellung immer noch kompliziert, daher wäre eine bürokratische Vereinfachung des Bildungs- und Teilhabepaketes sinnvoll.

Fußballschuhe, Trikot, Fahrt zu Turnieren – das kostet mehr als 15 Euro!

Als armutsbetroffene alleinerziehende Mutter ist das eine Herausforderung. Ich bin dankbar, dass ich eine Wohnung gefunden habe und das Jobcenter die Miete übernimmt, und dass ich für mein Kind viele Hilfen beantragen kann, sodass es nicht ganz ausgegrenzt ist. Aber es gibt trotzdem ständig schier unüberwindbare Hürden: eine Mitgliedschaft im Fußballverein kostet nicht nur den Vereinsbeitrag, sondern das Kind benötigt ein Trikot (gebraucht ab 10 Euro, neu ab 35 Euro), Fußballschuhe (gebraucht ab 10 Euro, neu ab 35 Euro), Fußballhose (gebraucht ab 10 Euro, neu ab 35 Euro). Auch die 15 Euro, die mit dem Bürgergeld anteilig gezahlt werden, um Vereinsmitgliedschaften zu finanzieren, reichen da nicht aus. Hinzu kommen Fahrtkosten zu den Turnieren. Bei Judo sieht es ähnlich aus und der Mädchentraum Ballett oder Reiten ist geradezu utopisch.

Soziale Teilhabe ist wichtig, gerade für Kinder von armutsbetroffenen Familien.

Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer Kindergrundsicherung, und ich hoffe, dass sie für viele Kinder etwas ändern wird. Denn das Bürgergeld hat für meine Tochter kaum etwas verbessert. Der Tagessatz zur Versorgung meiner Tochter mit Lebensmitteln beträgt 4,54 Euro. Sie kommt jetzt langsam in die Pubertät, und ich weiß nicht, ob Sie Kinder in der Pubertät haben, aber: Wie soll man die mit 4,54 Euro sattbekommen?

Auch meine regelmäßigen Tafelbesuche lösen das Problem nicht. Es wird Zeit, dass die Regelsätze der Lebensrealität von uns Armutsbetroffenen angepasst werden. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Wenn ich Wert auf qualitative Ernährung mit viel Obst und Gemüse lege, dann übersteigen die Kosten dafür den vorgesehenen Lebensmittelsatz von 174,19 Euro im Monat für Erwachsene deutlich. Das meiste Geld gebe ich für ausgewogene Ernährung aus. Und nein – ich rede nicht von Bio-Lebensmitteln!

Poverty Porn auf RTL2 lehrt Klassismus

„SOLCHE Leute sollten keine Kinder bekommen!“, das bekommen armutsbetroffene Menschen dann zu hören oder zu lesen, gerne unter Posts auf Twitter. Eiskalte Abwertung. Anstatt die Ursachen der Armut zu betrachten und diese zu verändern, wird die armutsbetroffene Person zur Schuldigen erklärt. Sie glauben gar nicht, an was Armutsbetroffene angeblich Schuld sind (Achtung: Klassismus!): Sie liegen mit ihrer Faulheit dem Staat auf der Tasche und verhindern wirtschaftlichen Aufschwung, sie sind raffgierig, unverschämt, unhygienisch und ungebildet. Und natürlich: Sie bekommen Kinder, um dem Staat noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.

Zwanzig Jahre Springerpresse unter Hartz IV haben einen großen Anteil an der Desinformation. RTL2 rühmt sich mit klischeebeladenem Poverty Porn über Familien mit Kindern, und die Menschen, die das anschauen, hinterfragen in seltensten Fällen, was sie da sehen.

Lesen Sie stattdessen lieber die Tweets, die unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen getwittert werden. Es gibt dank diesem seit 2022 viele lohnenswerte Interviews oder Berichte im Netz zu finden. Oder schauen Sie sich an, mit welchen Beträgen armutsbetroffene Eltern tatsächlich jonglieren müssen in ihrem Alltag. Jedes fünfte Kind ist in Deutschland von Armut betroffen. Diese Zahl klingt so weit weg und so abstrakt. Für meine Tochter geht es darum, ob sie im nächsten Halbjahr an einem kostenpflichtigen Nachmittagsangebot wie Malen oder Backen und Kochen an ihrer Schule teilnehmen kann. Diese Kurse kosten zwischen 35 und 52 Euro pro Halbjahr. Auch die Nachmittagsbetreuung ist kostenpflichtig. Die Stadt bezuschusst Nachmittagsbetreuung an der Schule mit 100 Euro, trotzdem kann ich den Betrag von 253 Euro nicht zahlen.

Die Zeit der abstrakten Zahlen ist vorbei. Ich bin eine von 17,3 Millionen Armutsbetroffenen, die erwartet, dass politisch etwas unternommen wird. Schließlich sitzt eine Partei in der Regierung, die das Wort sozial im Namen trägt – oder nicht?

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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