Der Paradies-Vertriebene

Porträt Am Kopf zieht das 19. Jahrhundert, an den Füßen das 21. Eine Huldigung an Richard Blank, den Filmemacher und Autor aus dem Rheinland

Als mich Richard Blank, Filmemacher und Autor, zum ersten Mal besuchte, Ende der 1970er Jahre, damals noch in München, um über eine neue „Literarische Filmerzählung“ zu sprechen, eine Reihe, für die er, nachhaltig unterstützt vom Bayerischen Rundfunk, sein Autoren-Fernsehkino hauptsächlich gestaltete, war gerade eine exzentrische Schauspielerin aus der Clique um den Filmregisseur Werner Schroeter bei mir zu Gast, die sich Carla Aulaulu nannte und mir ins Ohr raunte, dass ich mich vorsehen sollte: „Mit dem stimmt was nicht.“

Sie hatte Blank aus einem roten Mercedes aussteigen sehen, Stretchversion. So eine Limousine zu fahren, bedeutete damals in linken oder sich zur Avantgarde zählenden Kreisen ein Todesurteil, was Blank aber nicht störte, weil er niemals vorhatte, sich in den angesagten VW-Bus zu klemmen, um seine fünf Kinder zu transportieren, zusammen mit seiner Frau, die auch nicht das Zeug zu einer alternativen Socke hatte. Die Blanks handelten frei und unangepasst an die Zeit der Weltverbesserer. Sie waren weder prinzipiell „anti“, noch pflegten sie Kontakte zur Münchner Schickeria, was der Lebensqualität der Großfamilie und ihrem aufgeklärten, von keinen Gruppen eingeschränkten Verhalten ganz und gar nicht schadete.

Blank, bei Ernesto Grassi in Philosophie promoviert, Pfeifenraucher, Bartträger, und was seine Arbeit angeht, Methodiker, lebt noch heute in einem Münchener Nobelvorort, hat einen zweiten Wohnsitz in den Bergen nordöstlich von San Remo und eine Wohnung in Venedig. Seine Familie ist groß, seine Swimmingpools sind beheizt, und seine offenen Kamine verführten immer zu langen abendlichen Gesprächen. Er lebt in solidem Wohlstand und hat sich abgesichert gegen das, was man eine Künstlerexistenz nennt. In einem Brief an eine Schauspielerin schrieb er: „Die Kunst an sich ist ohne Wert. Das Einzige, was wir haben, ist das alltägliche Leben und die Gewissheit, dass es unzureichend ist. Der Mangel hält uns an der Arbeit. Künstlerische Produkte sind Mängelanzeigen.“ Im Paradies, meint Blank, werden sehr wahrscheinlich keine Filme gedreht.

„Leck mir die Täsch“

Er wuchs als Sohn eines Industriemanagers auf, der die größte Futterstoffweberei Deutschlands in Langenfeld bei Düsseldorf leitete. Die Mutter war Hausfrau und zog ihn samt Bruder und Schwester groß. Seine Kindheit und Jugend in den 1940er und 1950er Jahren sei halb feudal, halb proletarisch verlaufen. Einerseits der Lärm der Webstühle und Freunde in der Arbeiterschaft, anderseits sein Zuhause, wo man damals auch Hühner, Gänse, Tauben und ein Schwein hielt. Bevor er zur Schule ging, molk er zwei Schafe, was ihm vermutlich später zu seinem Film Das Hausschaf veranlasste.

Manchmal fuhr die Familie nach Berlin ins Theater, und Paul Schultes, sein späterer Schwager, bereitete eine dann sehr beachtete Arbeit über das Theater des Expressionismus vor und wurde Hörspielchef im WDR. Es herrschte schon in den 50er Jahren eine offene Streitkultur in der Familie, weit entfernt von Unterdrückung, und wenn ich ihm sage, ich würde später auf der Rasenbank vor dem Elterngrab noch einmal Horkheimers Autorität und Familie lesen wollen, muss er lachen.


Er hat viel aus seiner glücklichen Kindheit in sein späteres Leben übernommen, das Unprätentiöse, einen genussfreudigen Humanismus, den Frohsinn des Rheinländers und einen milden Katholizismus, in dem Gott weiß, dass jeder Jeck halt anders ist. Bloß kein Kunstpathos und keine Befindlichkeitsdebatten. Einmal hörte ich ihn zu einer Schauspielerin sagen: „Vielleicht ist es wichtiger, dass Ihr Kleid zum Stuhl passt, als Ihr Seelenleben zu Rolle.“

Die Begegnungen mit Blank blieben überraschend. Einmal traf ich ihn in den Anden, wo er mit einheimischen Jungfilmern und Studenten oberhalb der ecuadorianischen Hauptstadt Quito zwischen jeweils zwei Sandstürmen unter sengender Sonne Szenen über das Leben eines alten Freudenmädchen drehte, das aus einem gottverlassenen Dorf vertrieben wird. Sie pflegte den alten Stil, die großen Gesten, die Kunst der schönen Lüge und erinnerte an die „Vögelinnen“ in den Romanen von Gabriel García Márquez. Wenn man jammerte über die 3.000 Meter Seehöhe und die ausbrechende Cholera – „Dat wird noch, wirst sehen“, sagte Blank und brabbelte im Weggehen auf Kölsch: „Leck mir die Täsch.“

Den Männern steht das Wasser bis zum Hals – im Dampfbad

Oder er holte mich vom Flughafen in Genua ab und brachte mich nach Vasia, wo er an seinem zweiten Wohnsitz ein traditionelles Passionsspiel wieder zum Leben erweckte, einen barocken Text aus dem 17. Jahrhundert, mündlich überliefert und gereimt, auf dem höchsten Platz des Bergkaffs mit seinen am Steilhang wie hingetuscht eng nebeneinander klebenden Häuschen, direkt vor der Dorfkirche mit einen Kampanile aus Naturstein. Aber nie hätte er daran gedacht, und dies ganz im Sinn der Dorfbewohner, aus dem Karfreitagsspiel eine Touristenattraktion zu machen. Es gibt keinen einzigen Herrgottsschnitzer in Vasia, und Oberammergau ist glückvoll weit entfernt.

Er hat in seinen Fernsehfilmen immer wieder den Untergang der bürgerlichen Welt gezeigt, indem er ihr die Staffage entzog. In seinem Film Die Heiratsschwindlerin ist der Himmel schwarz wie die Nacht und die Erde sieht aus wie ein Müllberg, am Horizont flackern kleine Feuer. Eine Filmschönheit mit Stöckelschuhen und einem Hut wie für ein Pferderennen in Ascot trippelt über den Müll auf einen Mann zu. „Siehst Du den Mond?“, fragt sie. Sie ist noch fremd unter dem verkohlten, mondlosen Himmel. Blank zeigte die bürgerliche Welt auf der Streckbank. Am Kopf zieht da das 19. Jahrhundert, an den Füßen das 21.

Mondsüchtige ohne Mond, Stöckelschuhe ohne Asphalt, Hüte ohne Ascot, Burgen ohne Grafen – alles Katastrophen. In Fridolin, wo der GAU zum Konversationsstück wird, gibt es gerade noch einen, zu dem eine schon von malignen Hautausschlägen gezeichnete Frau sagt: „Die Welt war, mit Verlaub gesagt.“ Und Graf Paten zu Schladen antwortet: „Nicht unbedingt, I wouldn’t say, wir wollen nicht verzagen.“ Und kracht mit einem Bein im maroden Boden ein. Solche Szenen sehen heute fast prophetisch aus. Politische Hauptstadtgespräche, wenn nicht über die Welt, dann über Europa.

Auch mit seinen Schauspielern verfuhr Blank immer familiär, lud sie nach München ein, damit man sich kennenlernt. Katharina Thalbach, Bernhard Wicki oder Hannelore Schroth, deren Ufa-Stern längst untergegangen war und die er zu ihrer Berufung zurückholte.

Sein wichtigster Film ist Prinzenbad, der, das Finale ausgenommen, nur in den berühmten Bädern des Budapester Hotels Gellert spielt. Die Männer haben sich weiße Leinentücher wie Lendenschurze umgebunden, und es ist, als sei mit den Frauen die Schönheit aus dem Bad verbannt. Aufgeblähte Bierbäuche, runzlige Haut, aufgedunsene Gesichter, unter ihnen Ulrich Wildgruber und Wicki als Bademeister. Wie ein Haufen unansehnliches weißes Fleisch, wälzt sich diese Männerwelt durch das Bad und schwappt ins Wasser. „So sind wir, und so sehen wir aus“, sagte Blank, die Männer seien nun mal nicht die Krone der Schöpfung. Über Geschichten verfügen diese Komparsen der Neuzeit auch nicht mehr. Lächerliche Machtspiele, miese Geschäfte, dumme Affären – das ist der Rest ihres Lebens. Man hat diese kalte, künstliche Welt und die gesamte Konstruktion mit Arbeiten von Peter Greenaway verglichen. Man sieht einem Untergang zu. Diesen Männern steht das Wasser bis zum Hals, und von den Helden von einst bleiben Fratzengesichter übrig, die einen durch die trüben Nebelschwaden der Dampfbäder angrinsen: Faune, Rumpelstilzchen, Alberiche. Aber verraten wurden sie nicht. Jecken des Untergangs.

Es gibt da so ein Wort. Es zählt etwas für ihn. Es heißt Liebe

Auch als über Blanks Leben tiefe Finsternis kam und sein jüngster Sohn, begabt zum ­Schreiben und Filmen, der posthum für einen Kurzfilm den Publikumspreis der Festspiele von Venedig erhielt, nach einem Sportunfall plötzlich verstarb, blieb Blank an Deck seines Lebensdampfers, zusammen mit den Kindern, Freunden und seiner wunderbaren, selbstbestimmten, gescheiten, unangepassten, dem Gefühlsleben der Menschen nicht ausweichenden Frau. Die Blanks hatten die menschlichen Werte nicht gegen Ideologien vertauscht, keinem Größenwahn anheimgegeben und wirkten in Zeiten, als der Fortschritt darüber hinweg ging, ein bisschen altmodisch. Jetzt weisen sie eher in die Zukunft, auch deshalb, weil Richard Blank sich während der inzwischen untergegangenen Protestkultur nicht mit Anklagen aufhielt, sondern Lösungen suchte. Im Konkreten. Er folgte wohl einem Fellini zugeschriebenen Diktum: „Wer nur etwas von Film versteht, versteht auch davon nichts.“

Auch die Untergeher seiner Filme ließ er nicht ruhmlos fallen. Da gibt es eben so ein Wertewort, man wagt es kaum zu sagen, so verkitscht und verraten wurde es. Es heißt Liebe und kann das Verlorene weiterleben lassen. Denn sonst, erklärte mir Blank, mit dem ich längst befreundet bin, „bleibt nur ein großes Loch“. Weil es eben nicht stimme, dass die Zeit die Wunden heilt.

Er schreibt jetzt Bücher, ist 70 geworden wie ein anderer 50 und beherrscht das Metier überraschend gut. Ein Buch handelt von Schauspieler-Ausbildung und ist eine plausible Polemik gegen die Strasberg-Schule, ein marodes Modell der Innerlichkeit. Über Licht im Film gibt es nur Regelbücher und Vorschriften, aber keine historisch-kritische Auseinandersetzung. Er hat sie geschrieben. „Das geht doch nicht an“, sagt Blank, „dass man alten Reglementierungen folgt, denn wie du Licht machst, so siehst du die Welt.“ Ein drittes Buch, alle im Berliner Alexander Verlag erschienen, befasst sich mit Drehbüchern und bekämpft die klassischen Story-Schemata, das Elend heutigen Filmemachens. Der Untergang im Gewusst wie. Ich kann Blank auch bis dahin folgen, weil ich mir immer sicher war, sobald ein Schreibender weiß, wie es geht, sollte er Rosen züchten. Manchmal sagte ich Blank: „Du hast ja aber ein ganz anderes Leben.“ Dann antwortete er: „Jedes Leben ist anders.“

Rückblickend muss ich sagen, dass die Blanks mehr ins Heute und für Morgen gerettet haben als so mancher Kunst-Egomane. Denn die größte Kunst ist es, man kann es nicht oft genug betonen, ein Leben zu führen. Natürlich brauchen wir einen neuen künstlerischen Wahnsinn, eine Antwort auf das herrschende Mittelmaß. Ein Weg, der noch zu finden ist. Bloß kein Gratisoptimismus, aber, wenn möglich, das alte Trotzdem. Trotz der Gewissheit: „Wenn du willst, dass Gott lacht, erzähle ihm deine Pläne für morgen“.

Helmut Schödel ist Dramaturg und Autor in Deutschland und Österreich

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