Die semantische Flanke

Bellizistik In asymmetrischen Konflikten gelten eigene Regeln, meint der Theoretiker der „neuen Kriege“ - aber was bedeutet das für den Afghanistan-Einsatz?

Als vor einem Jahrzehnt von einigen Wissenschaftlern der Begriff der „neuen Kriege“ ins Spiel gebracht wurde, waren die Kritiker schnell bei der Hand: Weder sei das, was in den bewaffneten Konflikten an der Peripherie der Wohlstandssphäre beobachtet werde, in jeder Hinsicht neu, noch handele es sich dabei um Kriege im völkerrechtlichen Sinne. Also machten sich die einen auf die Suche nach neuen Kunstbegriffen, um unter allen Umständen das K-Wort zu vermeiden, und die anderen durchforsteten die Kriegsgeschichte, um den Nachweis zu erbringen, dass sich mit dem allmählichen Verschwinden des zwischenstaatlichen Krieges nichts grundlegendes geändert habe. Man wollte von den zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation entwickelten Friedensstrategien, die sich in Europa bewährt hatten, nicht ablassen, sondern sah darin ein probates Instrument globaler Friedenssicherung, das man für die Beobachtung des „Neuen“ nicht drangeben wollte.

Diese Kritik, die darauf hinauslief, dass man im Falle einer militärischen Intervention in diese Konflikte nicht von Krieg sprechen und auch keine grundlegend neuen Konzepte zur Befriedung solcher Konflikte ausarbeiten musste, kam der Politik zupass. So musste man sich nicht mit den diffizilen Herausforderungen beschäftigen, die aus den drei Merkmalen der neuen Kriege erwuchsen: der Asymmetrierung der Fähigkeiten, der Kommerzialisierung der Akteure und der Entmilitarisierung jener Gewaltmittel, die für die Durchsetzung eines (politischen) Willens nötig wurden.

Der Frieden als Bedrohung

Asymmetrie heißt dabei nicht nur, dass in wachsendem Maße ungleichartige Akteure aufeinandertreffen, sondern dass sich auch unterschiedliche Handlungsratio­nalitäten gegenüberstehen. Das machte denen, die an einer Logik wechselseitiger Abschreckung orientiert waren, am meisten zu schaffen. Mit einem Male galt der Satz nicht mehr, dass man versagt habe, wenn man kämpfen müsse, weil nämlich die eine Seite, die von ihren bloßen Fähigkeiten her deutlich unterlegen war, unbedingt auf Kampf setzte. Kommerzialisierung der Akteure besagt, dass man es mit einem Gegenspieler zu tun bekommt, der vom Kriege lebt bzw. die bewaffnete Gewalt in eine ökonomische Ressource verwandelt hat und darum kein vitales Interesse am Frieden zeigt. Unter diesen Umständen macht man sich also nicht nur Freunde, wenn man Frieden verspricht. Entmilitarisierung schließlich heißt, dass der Gegner nicht nur mit militärisch professionalisiertem Personal agiert, sondern die Grenzen zwischen Militär und Zivilbevölkerung systematisch verwischt. All das hatte es, im Einzelnen betrachtet, immer schon gegeben, aber in dieser Intensität und Kohärenz war es für europäische Streitkräfte neu. Hätte man diese Herausforderung genauer durchdacht, so hätte man zumindest geahnt, auf welch riskantes Vorhaben man sich einließ, wenn man hier intervenierte. Zumindest hätte man den Umstand, dass es im Norden Afghanistans lange Zeit ruhig blieb, zielstrebiger genutzt und nicht so naiv davon gesprochen, diese Ruhe sei ein Ergebnis der eigenen klugen Strategie.

Auch für asymmetrische Konflikte gilt, was Clausewitz über den Krieg ganz allgemein gesagt hat: Es handelt sich um einen Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung des je eigenen Willens zu zwingen. Auf dem Weg nach Afghanistan hat sich die deutsche Politik jedoch nicht an den Überlegungen des Generals von Clausewitz, sondern an der Terminologie der Völkerrechtler orientiert, die von einem „nichtinternationalen bewaffneten Konflikt“ sprachen, und so hatte sie gehofft, indem sie den Begriff des Krieges mied, sich auch alle sachlich mit den neuen Kriegen verbundenen Probleme vom Halse halten zu können. Das hat sich inzwischen als fahrlässig herausgestellt.

Man hatte sich damit dem Gegner geradezu ausgeliefert. Der musste nur den Druck erhöhen, von Sprengfallen zu regelrechten Gefechten übergehen, um die Regierung gegenüber den Bürgern in semantische Schwierigkeiten zu bringen. Da diese ohnehin wenig Begeisterung für die Afghanistanintervention aufbrachten, setzte man auf Bilder und Begriffe, die sich um den Aufbau des zerstörten Landes drehten und die Möglichkeiten eines strategischen Gegenakteurs außer Betracht ließen. Man unterstellte, dass die afghanische Bevölkerung auf Hilfe von außen wartete, und ging davon aus, dass sie potenzielle Gegner des Friedens isolieren werde, so dass man sie festnehmen könne und nicht bekämpfen müsse. Aber in einer Gesellschaft, die durch einen mehr als drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg gegangen ist, haben sich Gewaltökonomien gebildet, die nicht so ohne weiteres auf Frieden umgestellt werden können und in denen einige von der Gewalt leben. Sie haben nichts gelernt als Krieg und empfinden einen stabilen Frieden als bedrohlich. Nur wenn man sie ausschaltet, hat der Frieden eine Chance. Man musste also damit rechnen, dass sie mit Gewaltmitteln gegen die Pazifizierung angehen würden.

In asymmetrischen Konfrontationen spielen Bilder und Begriffe eine herausgehobene Rolle. Wer eine Intervention damit rechtfertigt, dass er einer vom Krieg geschundenen Bevölkerung helfe, ist durch Bilder verwundbar, auf denen tote Zivilisten zu sehen sind, die angeblich oder tatsächlich durch seine Waffen getötet wurden. Und wer zu Hause erklärt, dass es sich in Afghanistan um keinen Krieg handele, lädt den Gegner mithin zur Attacke ein, mit deren Abfolge sich dann der Eindruck verhärtet, dass man sich sehr wohl in einem Krieg befinde. Der selbst auferlegte Zwang zur Vermeidung des Kriegsbegriffs hat eine semantische Flanke geöffnet, in die der Gegner nur hineinstoßen musste. Aber anstatt diese semantische Verwundbarkeit zu beenden, hat die deutsche Politik darauf gesetzt, die sinkende Zustimmung der Bevölkerung zum Afghanistaneinsatz dadurch umkehren zu können, dass sie die normative Sprunglatte höher legte: Sprach man zunächst bloß davon, Brücken zu bauen und Lazarette einzurichten, so ging es schließlich um ein leistungsfähiges Bildungssystem, Gleichberechtigung und Demokratie. Anstatt die Verletzlichkeit zu verkleinern, hat man sie erhöht.

Die eigene Verletzlichkeit

Der schließlich gefasste Entschluss, doch von Krieg und Gefallenen in Afghanistan zu sprechen, hat der deutschen Politik nicht nur größere Spielräume gegenüber der eigenen Bevölkerung verschafft, die, wenn der Eindruck nicht täuscht, geradezu mit Erleichterung darauf reagiert hat, dass das zuletzt nur noch groteske Vermeiden des K-Wortes ein Ende hatte; und sie hat zugleich die Attraktivität von Angriffen gegen deutsche Soldaten in Afghanistan vermindert, weil, nachdem der semantische Graben erst einmal übersprungen war, die Deutschen nicht länger das schwächste Glied in der Kette der westlichen Streitkräfte bildeten. Genau dazu hatte sie die deutsche Politik durch das Vermeiden des Kriegsbegriffs gemacht. Die Angriffe auf deutsche Soldaten während der letzten Monate hatten nicht wesentlich deren physische Schwächung zum Ziel, sondern sollten über Berichte und Bilder die deutsche Politik zu einem semantischen Eingeständnis zwingen, in dessen Folge, so die Erwartung der Gegenseite, der politische Wille zur Fortsetzung des Einsatzes rasch schwinden würde. Der Kampf der Waffen war ein Mittel im Krieg der Begriffe.

Es ist bemerkenswert, wie schnell sich die deutsche Politik inzwischen aus der selbstgestellten Begriffsfalle befreit hat. Die einschränkende Bemerkung von der bloß umgangssprachlichen Verwendung des Kriegsbegriffs war dabei ein taktisches Manöver. Und die Bilder von den Trauerfeiern in Selsingen und Ingolstadt dürften den Taliban, die über die deutsche Stimmungslage erkennbar gut informiert sind, deutlich gemacht haben, dass aus dem leichten Erfolg, auf den sie gesetzt haben, vorerst nichts geworden ist.

Damit bleibt freilich die umgekehrte Frage, wie man deutscherseits einen Erfolg in Afghanistan definieren soll, der einen Abzug der Truppen ohne politischen Gesichtsverlust innerhalb eines überschaubaren Zeitraums ermöglicht. Die Frage nach Sieg und Niederlage im herkömmlichen Sinn stellt sich in asymmetrischen Kriegen nicht. Und wer die Normhöhe zu hoch ansetzt, erhöht bloß die eigene Verletzlichkeit. Die Herausforderung der jetzt zu führenden Debatte besteht darin, die eigene Bevölkerung offen und umfassend auf dem Laufenden zu halten, ohne dadurch dem strategischen Gegenakteur zusätzlichen Handlungsoptionen zu eröffnen. Ein ehrlicher Gebrauch klarer Begriffe dürfte dabei mit Sicherheit hilfreich sein. Oder frei nach Max Horkheimer: Wer von den neuen Kriegen nicht reden will, sollte von humanitären Interventionen schweigen.

Herfried Münkler lehrt an der HU Berlin. 2002 veröffentlichte er Die neuen Kriege, letztes Jahr erhielt er für Die Deutschen und ihre Mythen den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Sachbuch/Essayistik

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