Durch die Hintertür

Rechtssprechung Das ­deutsche Sozialrecht wird vom EU-­Binnenmarkt bestimmt – auf Kosten der Arbeitnehmer. Sie drohen, per Gerichtsurteile vom neuen Ökonomismus überfahren zu werden

Angela Merkel sieht Europa auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft. „Unsere Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell kennen.“ Diese optimistisch gemeinte Aussage der Bundeskanzlerin stößt unter Experten auf Unverständnis. Denn eigentlich gibt es keine europäische Sozialpolitik. Eigentlich. Doch durch die Hintertür der Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg begonnen, ein eigenständiges kontinentales Sozialmodell zu schaffen. Dabei schrecken die Richter selbst vor dem deutschen Grundgesetz nicht mehr zurück.

Durch die Hintertür der juristischen Rechtsprechung schleicht sich Europa immer tiefer in die deutsche Sozialpolitik hinein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschied 2007 und 2008 in den vier aufsehenerregenden Fällen „Rüffert“, „Laval“, „Viking“ und „Luxemburg“ unter anderem gegen die Tariftreue und damit einen angemessenen Mindestlohn bei öffentlichen Aufträgen. Die Richter blockieren mit ihren Urteilen auch die Gewerkschaften in Deutschland.

Die Botschaft der vier grundlegenden EuGH-Urteile lautet: die vier Freiheiten des Binnenmarktes sind den sozialen Freiheiten, wie beispielsweise dem Streikrecht, übergeordnet! Im juristischen Zweifelsfall schlagen die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit, von Waren und Dienstleistungen daher sogar das bundesdeutsche Grundgesetz und das dort fixierte Streikrecht. Kritiker werfen den Luxemburger Richtern vor, die vertraglichen EU-Grundlagen wie den „Maastrichter Vertrag“ geradewegs eindimensional zu interpretieren. Auf diesem postneoliberalen Weg weiß jedoch der griechische Präsident des Europäischen Gerichtshofs, der in Hamburg promovierte Jurist Vassilios Skouris, bislang eine politische Mehrheit in der Kommission und im Ministerrat hinter sich.

Dumpinglöhne bleiben

Die vier oben genannten Urteile aus Luxemburg zeigen in Deutschland bereits Wirkung. Im Mai 2008 entschied der Bundesrat gegen einen Antrag der Bundesländer Berlin, Bremen und Rheinland-Pfalz, die gefordert hatten, dass der Staat die Tariftreue zur Voraussetzung für die Vergabe öffentlicher Aufträge an private Firmen machen soll. Eine Forderung, die auch der Deutsche Gewerkschaftsbund seit langem erhebt. Aber CDU und FDP begründen ihre Ablehnung mit den Richtersprüchen des Europagerichts in Luxemburg. Die Folge: Weiterhin können Firmen, die einen Kindergarten bauen oder eine Landstraße sanieren, Dumpinglöhne an ihre Beschäftigten bezahlen.

In den europäischen Gewerkschaften stießen die EuGH-Urteile auf scharfe Kritik: „besorgniserregend“ heißt es, und: „können wir nicht wichtig genug nehmen“. Die Vertreter des in Brüssel ansässigen Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) zeigen sich alarmiert. Alarmrufe erklangen auch aus der Wissenschaft. „Politökono­mische Interessenlagen gewinnen bei der ­Bewertung des europäischen Projekts zunehmende Bedeutung“, warnen Forscher am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Die Kräfteverschiebung in Richtung Ökonomie geht auf Kosten von Arbeit und Sozialem. Die alltäglichen Lebensrechte der 498 Millionen Staatsbürger drohen, per Gerichtsurteile von einem europäischen Ökonomismus überfahren zu werden. Es gilt die Faustformel: Binnenmarkt gewinnt gegen Sozialrecht! Wo die Sozialpolitik im Wege steht, wird den vier Wirtschaftsfreiheiten der Weg von den Luxemburger Richtern freigeräumt. Zur sozialen Marktwirtschaft nach deutschem Muster, wie sie Frau Merkel für Europa vorschwebt, führt dieser Weg nicht.

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