der Freitag: Herr Oltmer, in der Debatte um die sogenannte Flüchtlingsfrage wird oft argumentiert, der Zuzug aus „fremden Kulturen“ sei für die deutsche Gesellschaft kaum zu verdauen. Da fällt beispielsweise immer wieder der Satz, dass man sich an Orten wie Berlin-Neukölln fühle, als sei das „gar nicht mehr Deutschland“.
Jochen Oltmer: Solche Vorstellungen sind weit verbreitet. Viele gehen davon aus, dass nur einheitliche Kollektive reibungslos funktionieren, dass nur Homogenität Ordnung schafft. Auch in früheren Debatten um Nationen und Nationalstaaten war diese Vorstellung sehr zentral. Homogenisierungen beinhalten aber immer auch die Abgrenzung von anderen und von vorgeblich Fremden. Und das nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln. Was als Gefahr für die Einheitlichkeit gilt, wird sozusagen auszutreiben versucht.
Viele denken, dass die deutsche Gesellschaft früher mehr oder weniger homogen war. Mit weniger Migranten und einem „unverkrampfteren“ Verhältnis zur Nation ...
Die Nationalismusforschung hat immer wieder deutlich gemacht, dass Nationen „vorgestellte Gemeinschaften“ sind. Damit hängen sie auch einer vorgestellten Homogenität an. Bis 1870 gab es keinen einheitlichen deutschen Staat. Teile des Bürgertums und der politischen Elite strebten nach einem einheitlichen Deutschland. Im allergrößten Teil der Bevölkerung aber spielten Vorstellungen von Deutschheit und Deutschsein eine sehr geringe Rolle.
Woran lag das?
Wir sehen, dass die Identitäten der Deutschen bis ins späte 19. Jahrhundert sehr stark regional und auch lokal ausgeprägt sind. Darüber hinausgreifende Bezüge sind recht schwach, wenn überhaupt, dann orientiert man sich an bestehenden Staaten, also daran, Preuße oder Württemberger oder Oldenburger zu sein.
Lässt sich das an einem Beispiel veranschaulichen?
Schauen wir auf die starken Auswanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert. Da verlassen sechs Millionen Deutsche den europäischen Kontinent. Zu 90 Prozent landen sie in den USA. Genau dort stehen die Leute vor der Frage: Wer bin ich und wohin gehöre ich? Die Antwort ist relativ klar: Deutsche, die neu in die USA kommen, ziehen nicht zu Deutschen, sondern orientieren sich an relativ eng geschlossenen Herkunftskollektiven: Westfalen zu Westfalen, Oldenburger zu Oldenburgern, Pfälzer zu Pfälzern. Wir sehen dann, dass Verwandtschaft, Bekanntschaft, Freundschaft, räumliche Nähe eine sehr große Bedeutung für die Menschen haben. Die Menschen orientieren sich an einem Kollektiv, das räumlich beschränkt ist auf einen Umkreis von nicht mehr als 30 Kilometern um den Herkunftsort in Deutschland.
Und das blieb Tausende Kilometer von der Heimat entfernt so?
Ein Verständnis davon, dass man als Westfale irgendetwas mit Bayern zu tun hätte oder mit Baden, das gab es kaum. Dazu kam, dass es enorme Schwierigkeiten bei der Verständigung gab. So war in Norddeutschland die Alltagssprache das Plattdeutsche, beziehungsweise verschiedene plattdeutsche Formen. In Mitteldeutschland war es das Hochdeutsche. Die Dialekte und sprachlichen Varietäten der Süddeutschen verstand in der Regel ein Norddeutscher nicht.
Zur Person
Jochen Oltmer, Jahrgang 1965, lehrt Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Soeben erschien von ihm das Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert
Foto: Elena Scholz/Uni Osnabrück
Das ist ja auch heute noch teilweise so. In Berlin kann ich in ordentlichem Schwäbisch kaum Wecken bestellen. Die heißen hier Schrippen.
Na ja, und damals war das noch stärker der Fall. Es war ein überaus mühsamer Prozess, überhaupt eine Verständigungsbasis herzustellen. Hinzu kamen andere Trennungslinien: Die konfessionelle Teilung Deutschlands hatte im 19. Jahrhundert weiterhin eine große Bedeutung. Auch jenseits von Deutschland lässt sich das beobachten: In den Schützengräben des Ersten Weltkrieges haben sich beispielsweise die Norditaliener und die Süditaliener schlichtweg nicht verstanden.
Sie meinen sprachlich?
Ja, die Offiziere, die das Hochitalienische sprachen, verstanden die Dialekte und sprachlichen Varietäten ihrer Soldaten nicht und umgekehrt. Aber auch ein soziales Verständnis fehlte. Das hat etwas mit spezifischen sozialen Mustern, Normen und Selbstkonzepten zu tun – worüber hätte ein Angehöriger der Oberschicht mit einem Landarbeiter sprechen sollen? Wenn überhaupt eine sprachliche Verständigung möglich gewesen wäre. Oder nehmen Sie Frankreich – das Okzitanische des Südens ist eben tatsächlich eine andere Sprache als das Hochfranzösische. Letzteres wurde von Gebildeten, von Mittel- und Oberschichten, von Bildungsbürgern gesprochen. Die große Masse, die zu den unteren Schichten gehörte, war auf Dialekte angewiesen und verstand nicht unbedingt die Hochsprache.
Wie kam es dann zum Erstarken des Nationalbewusstseins?
Wenn wir über Homogenität reden, sind das Vorstellungen aus den Eliten, die bemüht waren, ihre Vorstellungen von Kultur durchzusetzen. Von großer Bedeutung waren dafür Instrumente wie die Schule und die Armee. Wir können von Agenturen der Nationalisierung und Homogenisierung sprechen – Agenturen, die eine gemeinsame Sprache und Kultur durchzusetzen versuchten, einen spezifischen Kanon von „Nationalliteratur“, eine spezifische Vorstellung von einer gemeinsamen nationalen Geschichte. Das war ein aktiv betriebener Prozess. Das ist nicht von alleine geschehen.
Die Gemeinsamkeit wurde konstruiert?
Genau, konstruiert und durchgesetzt, auch mit Gewalt in Bezug auf Minderheiten. Der Blick auf das Vereinsleben dieser Zeit ist hier interessant. Nehmen wir die unzähligen Gesangvereine. Diese besaßen ein ganz spezifisches bildungsbürgerliches Element. Hier setzte sich ein Kanon nationalen Liedgutes durch. Bestimmte Lieder, die nationale Gefühle wecken sollen, gehörten zum Standardrepertoire und verbreiteten bestimmte Vorstellungen darüber, was die Nation ist, was spezifische deutsche Werte sind, was eine deutsche Kultur ist und was dazugehört – und vor allem nicht dazugehört. Die Abgrenzung von anderen und vom anderen ist hier sehr stark. Mit Liedern wie Die Wacht am Rhein, das explizit antifranzösisch ist, wird gleichzeitig die Distanz zu Frankreich betont und die Identifikation mit dem Deutschsein gestärkt.
Die Turnvereine kenne ich dagegen eher als sozialistisch und sozialdemokratisch.
Nicht nur. Im 19. Jahrhundert zeigte sich immer mehr, dass Deutschland eine stark gespaltene Gesellschaft war. Die Turnvereine wurden zu Sportvereinen. Diese teilten sich in katholische, protestantische, jüdische, Arbeiter- so-wie bürgerliche Sportvereine. Man sieht hier verschiedene Gesellschaften nebeneinander, die sich in eigenen Verbänden zusammenfinden. Im gesamten Bereich des Sports, sowohl im späten 19. als auch im frühen 20. Jahrhundert, gerade in der Zeit der Weimarer Republik, wird das deutlich.
Und Politik spielte in den Vereinen auch eine Rolle?
Die Wahl des Vereins war bereits ein politisches Statement. Sie bildeten institutionelle Kerne relativ eng geschlossener gesellschaftlicher Milieus. Auch hier ging es um unterschiedliche Vorstellungen von Politik und von Kultur. Das, was in einem Arbeitersportverein oder in einem Arbeiterfahrradverein als Kultur gedacht und gepflegt wurde, war explizit anders als das, was in einer Bewegung wie dem Wandervo-gel zu finden ist, oder in einem bürgerlichen Gesangsverein. Dazu kommen die Diversifizierungen durch nationale Minderheiten.
Wer zählte damals zur Minderheit?
Vor 1914 waren zehn Prozent der preußischen Staatsangehörigen polnischer Herkunft. Diese hatten dann wieder ihre eigenen Vereine und ihre eigene kulturelle Vorstellung. Im Norden Deutschlands gab es einen starken Anteil von Dänen, im Südwesten finden wir das „Reichsland“ Elsass-Lothringen mit einem starken französischen Element beziehungsweise starken deutsch-französischen Überlappungen. Gleichzeitig wurde immer wieder heftig darüber debattiert, inwieweit das Kaiserreich, die 1871 geschaffene deutsche Nation, nicht eigentlich noch unvollendet sei: weil es in Russland, Österreich-Ungarn, in weiten Bereichen Osteuropas starke deutschsprachige Minderheiten gab – und ein langes Bemühen darum, Kontakt zwischen Deutschland und diesen Minderheiten aufrechtzuerhalten oder neu zu etablieren. Ob am Schwarzen Meer, in der Wolgaregion oder im rumänischen Siebenbürgen: Immer wieder wurde gestritten um die Frage: „Was ist deutsch?“
Gelegentlich liest man heute auch, die beiden deutschen Staaten seien nach dem Zweiten Weltkrieg kulturell besonders homogen gewesen. Entspricht das den Tatsachen?
Das bezieht sich auf die Vorstellung, es habe infolge der Territorialverluste kaum mehr Minderheiten in „Restdeutschland“ gegeben. Aber diese Sicht verträgt sich nicht mit der Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als zwölf Millionen Menschen in die vier Besatzungszonen beziehungsweise in die beiden deutschen Staaten als Vertriebene und Flüchtlinge zuwanderten. Sie hatten zwar alle die deutsche Staatsangehörigkeit oder bekamen sie rasch, dennoch kamen sie aus vielen Teilen des östlichen Europas und brachten sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber mit, was denn deutsche Kultur sei. Immerhin waren unter ihnen Millionen „Volksdeutsche“, deren Vorfahren vor Jahrhunderten aus Mitteleuropa nach Osteuropa bis nach Sibirien ausgewandert waren.
Wie sah das Zusammenleben also tatsächlich aus?
Die Nachkriegszeit war voll von Konflikten zwischen Einheimischen und Zuwanderern – nicht nur, weil viele glaubten, vor dem Hintergrund der starken Zuwanderung in einem Verteilungskonflikt zu stecken, in dem die Zuwanderer den Einheimischen etwas wegnehmen würden. Sondern auch, weil es explizit um Fragen von Identität und Zugehörigkeit ging.
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