Die Linke zerlegt sich und vergisst die Tradition der internationalen Solidarität

Migration Die vor allem von Sarah Wagenknecht befeuerte Argumentation gegen Migration übersieht die koloniale Ausbeutung und die Klimakrise als Ursachen und missachtet die positiven Folgen für die Länder im Süden wie im Norden.

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Bei den nahezu selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen in der Partei Die Linke geht es z. Zt. vor allem um den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Folgen, wobei die Bezeichnung der Sanktionen als Wirtschaftskrieg eigentlich eher eine Frage der Semantik ist. Über die NATO sollte angesichts des Grundsatzprogramms der Linken mit seiner eindeutigen Forderung nach deren Auflösung und Veränderung ohnehin kaum gestritten werden. Oft vergessen wird dagegen der vor allem von Sahra Wagenknecht entfachte Dissens über den Umgang mit Migranten, ein Problematik die weit über die Dauer des Ukrainekriegs hinaus bestehen wird. Besonders die Linke sollte sich für humane Lösungen von zunehmenden Flüchtlingskrisen einsetzen.

Sarah Wagenknecht beklagt in ihrem Bestseller Die Selbstgerechten den Verlust an Gemeinsamkeit, trägt aber mit ihren Positionen selber dazu. Sie beklagt das Zerbrechen der Solidarität, bezieht das aber nicht auf den Zustand der Welt, sondern auf die bundesdeutsche Gesellschaft. Sie spricht von einem Weltbürgertum mit Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land, und hält den sogenannten Lifestylelinken vor, sich nur für Klima, Emanzipation und Zuwanderung einzusetzen.

Sarah Wagenknecht erkennt zwar an, dass die krasse Ungleichheit der Lebenschancen eine gewaltige Ungerechtigkeit ist, und beklagt, dass viel zu wenig direkte Hilfe an Entwicklungsländer geht. Jedoch meint sie, die Migration habe die Annäherung der Lebensverhältnisse nicht erleichtert, sondern erschwert. Migranten könnten in Europa vor allem als billige Arbeitskräfte dienen und als Streikbrecher missbraucht werden. In den westlichen Ländern lehnten schließlich 60 bis 70% der Bevölkerung eine hohe Zuwanderung ab. Die große Mehrheit erwarte, dass ihr Staat sich zunächst einmal um das Wohl der eigenen Staatsbürger kümmert. Migration führe zu überforderten Schulen, die Folge sei eine fortschreitende Desintegration in sozialen Brennpunkten. Nationale Identität bedeute Zivilisationsgewinn, einen anderen als den nationalen Sozialstaat werde es -vorerst- nicht geben.

Frau Wagenknecht bestätigt alle Vorurteile gegenüber Migranten, und behauptet, dass die irreguläre Migration für die Herkunftsländer in der Regel keine Hilfe, sondern ein Problem sei. Auf den Weg nach Europa würden sich nicht die wirklich Armen machen, sondern die aus besser gestellten und gebildeten Bevölkerungsschichten, so dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung davon etwas habe. Solche Aussagen ignorieren nicht nur die Tradition der sozialistischen Internationale, sondern auch die Realität. Wer sich auf den mörderischen Weg durch die Sahara und das Mittelmeer macht, riskiert deshalb sein Leben, weil es für seine Familie in der Heimat keine wirtschaftliche Zukunft mehr gibt, besonders angesichts der vom Norden verursachten Klimakatstrophe. Die Rücküberweisungen der Migranten an ihre Familien in Entwicklungs- und Schwellenländern beliefen sich nach Angaben der Weltbank im Jahr 2020 auf 540 Milliarden US-Dollar,[1] alleine für Indien auf rund 83 Mrd. $, in Ländern wie Togo oder Südsudan machen sie sogar etwa ein Drittel des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus ! Übersehen sollte man ferner nicht, dass Bevölkerungsschwund und –alter im Norden ohne Migranten zu einem kaum tragbaren Mangel an Arbeitskräften führen würde, von der Pflege bis zum Transportgewerbe.

Linke Parteien sollten mehr als andre die Ursachen für die immer noch wachsende Benachteiligung des Südens im Vergleich zum industriellen Norden thematisieren. Sichtbar ist die Differenz im pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP): um 1700 betrug es im Vergleich von Westeuropa und Afrika gerade mal das 2.5-fache, 2008 stieg es auf das 12-fache, und in nur zwölf Jahren bis 2020 auf das 25-fache [2] . Ursache dafür ist die Ausbeutung von Bodenschätzen, billigen Arbeitskräften und landwirtschaftlichen Ressourcen in den Ländern des Globalen Südens im kolonialen Zeitalter. Dazu beigetragen hat, dass der Norden sich früh und hemmungslos fossile Energieträger zu Nutze machte, was durch Emissionen klimaschädlicher Gase weltweit zu unermesslichen Schäden führte. Betroffen sind auch hier vor allem die Länder im Süden, obwohl diese sehr wenig zu CO2-Emissionen beigetrugen.

Die in Jahrhunderten einer kapitalistischen Welt entstandene Benachteiligung der Länder des Südens manifestiert sich dort in einer unvergleichlichen Armut. Dort sterben überwiegend an Armutsfolgen z.B. immer noch täglich etwa 24.000 Menschen, drei Viertel davon Kinder unter fünf Jahren, und etwa 27.000 Menschen an Tuberkulose. Pandemien wie Corona verschärfen die Lage zusätzlich. Mit Pandemiefolgen können reiche Länder durch staatliche Investitionen fertig werden, während der Süden in seiner Leistungsfähigkeit und durch den Mangel an Impfstoffen und Medikamenten noch weiter zurückfällt. Als Folge der Pandemie prognostizierte die Weltbank eine Zunahme der extrem armen Menschen um 88 Millionen auf insgesamt 150 Millionen im Jahr 2021, von denen etwa 60% alleine in Südasien leben, sowie Folgekosten in Billionenhöhe. Das durchschnittliche pro-Kopf-Inlandsprodukt BIP gibt ein unzureichendes Bild der Armut: in Indien z.B. verdient eine Müllsammlerin pro Tag weniger als ein Euro, nur die wenigen Gutverdiener das etwa hundertfache.

Für die Verbesserung der Lebensverhältnisse im Globalen Süden ist eine veränderte Politik im Norden notwendig, mit Investitionen im Süden die weit über die bisherige Entwicklungshilfe hinausgehen. In Deutschland beträgt der Haushalt des zuständigen Ministeriums BMZ immer noch gerade mal etwa 9 Milliarden Euro jährlich, oder 2 % des Bundeshaushalts, wobei ein erheblicher Teil deutschen Unternehmen zugutekommt. Der Bedarf an Investitionen in reale Güter ist im Süden weit größer und zukunftsträchtiger als im Norden, wo Gewinne immer mehr nur durch Kapitalumschichtung erzielt werden. Das BMZ schätzt z.B. alleine die Finanzierungslücke für kleine und mittlere Unternehmen in Afrika auf 330 Mrd. Euro.[3] Nur ein Prozent der deutschen Auslandsinvestitionengeht zurzeit nach Afrika. Das im Norden im Überfluss verfügbare Kapital wird in überwiegend zweifelhafte und klimaschädliche Unternehmen investiert, es führt zu einem nicht mehr vertretbaren Wachstum mit immer mehr steigendem Umweltverbrauch. Eine Umsteuerung von Investitionen ließe sich durch überfällige steuerliche Maßnahmen und verbreiterte Investitionsgarantien des Bundes erreichen, sogar ohne wesentliche Belastung des Bundeshaushalts: alleine in Deutschland wurden z.B. 2021 ca 700 Milliarden Euro für Neuinvestitionen verwendet, Dividendenzahlungen belaufen sich auf nahezu 40 Mrd jährlich und werden immer noch mit nur 25 % versteuert. Der Süden dagegen muss für eine Verbesserung der Lebensbedingungen die im Norden schon lange realisierte Entwicklung nachholen und in gewaltigem Ausmaß in verbesserte Produktionen, Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Altersvorsorge investieren, alles auch Voraussetzung für eine Reduktion der Kinderzahl. Es ist auch der einzige Weg für einen humanen Umgang mit ansteigenden Flüchtlingskrisen. Wer, wenn nicht die Linke, soll für Solidarität auch mit den Menschen im Globalen Süden kämpfen, den Hauptopfern der weltweiten kapitalistischen Ausbeutung ?

[1] https://www.un.org/depts/german/millennium/SDG%20Bericht%202021.pdf

[2] Daten: https://de.wikipedia.org/wiki/ ; A. Maddison The World Economy: Historical Statistics.2007 ; P. Bairoch Commerce extérieur et développement économique de l'Europe au XIX siècle. Paris 1976.

[3] https://www.giz.de/de/weltweit/28079.html

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