Wo ist Widerstand?

Türkei Sozialdemokraten und Linke haben Erdoğans Irrweg in den islamisch- autoritären One-Man-Staat wenig entgegenzusetzen
Ausgabe 30/2016
Aber träumen ist immer noch erlaubt
Aber träumen ist immer noch erlaubt

Foto: Ozan Kose/AFP/Getty Images

Seit dem gescheiterten Putschversuch ist viel die Rede von der Rivalität zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Dabei gerät in Vergessenheit, dass beide über viele Jahre arbeitsteilig ihre gesellschaftliche und politische Vormachtstellung ausbauten und währenddessen die Gesellschaft aushöhlten. Ein offenes Geheimnis in der Türkei lautete, dass ohne den Segen der Gülen-Sekte politisch-administrative Posten selten besetzt werden konnten. Weit über die Kreise des politischen Islam hinaus reüssierten der Prediger und seine Gefolgschaft als Vertreter eines modernen Islam. Dabei waren sie Teil eines reaktionär-autoritären Projekts, das unter anderem darin bestand, den kemalistischen Einfluss etwa in Bildungseinrichtungen und im Militär zurückzudrängen, antiislamische sowie oppositionelle Strömungen systematisch zu schwächen und eine islamische Lebensweise zur gesellschaftlichen Leitorientierung auszurufen: Wer nicht so ist wie wir, ist nicht von uns. Dieser Kampf gegen die Anderen wurde gemeinsam gefochten, bis Gülenisten Tonaufnahmen leakten, die die Korruption von Recep Tayyip Erdoğan und seinem Clan dokumentierten. Seitdem bekämpfen Erdoğan und die AKP die „Parallelstrukturen“ im Staat.

Erdoğans politisches Projekt heißt „Yeni Türkiye“ (Die neue Türkei). Gemeint ist ein präsidiales System mit ihm an der Spitze und die Transformation und endgültige Überwindung des kemalistischen Erbes. So soll sich die Türkei als ein ökonomisches und politisches Zentrum in einer globalisierten Welt positionieren. Erdoğan beschwört im Loop die nationale Einheit als Einheit derer, die diese Zukunft der Türkei teilen. Das sind vor allem die eigenen Anhänger und die Gewinner des neoliberalen AKP-Kurses. Die Türkei ist seit Jahrzehnten in Lager gespalten und scheinbar von Gegensätzen konturiert – Türke oder Kurde, Laizist oder Islamist, Sunnite oder Alevite und nun eben AKPler oder Gülenist. Nicht nur mit dem rigorosen Durchgreifen seit dem Putsch, sondern schon mit dem Krieg in den kurdischen Gebieten und der Verfolgung von Journalisten und Intellektuellen wenden sich Erdoğan und die AKP von ihrem Anspruch ab, der gesellschaftlichen Spaltung etwas Neues entgegenzusetzen, wofür demokratische Reformen und Friedensgespräche mit der PKK als Referenz galten. Mit dem Ausnahmezustand hat Erdoğan nun die Grundlagen geschaffen, seine Machtbasis noch weiter auszubauen, die schon vor dem Putschversuch in Politik und Gesellschaft erdrückend war.

Hindernis Kemalismus

Zunächst klingt es möglicherweise irritierend, aber um Erdoğans Irrweg in einen islamisch-autoritären One-Man-Staat zu verhindern, müssten sich die türkischen Sozialdemokraten, zivilgesellschaftliche Organisationen und weite Teile der Linken vom Kemalismus verabschieden, den Erdoğan und Konsorten ins Visier genommen haben. Der überholte Kemalismus, eine auf sechs Doktrinen basierende Ideologie, die Staatsgründer Atatürk der jungen Republik mit auf den Weg gab, ist für die türkischen Sozialdemokraten (CHP) und viele Linke vor allem eins: ein Hindernis.

Weil die CHP Laizismus ohne Kemalismus nicht denken kann und an Doktrinen wie Nationalismus und Etatismus haftet, entwickelt sie keine neuen programmatischen Antworten auf den anatolischen Neoliberalismus der AKP, auf die Privatisierung des Bildungssektors oder Erdoğans monströse Bauprojekte. Selbst als die AKP-Regierung die Prüfung der Einführung der Todesstrafe verkündete, fiel dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu dazu nichts anderes ein als zu verlautbaren, man warte ab, dass der Gesetzentwurf im Parlament eingebracht werde. Noch selbstentlarvender kann man politisches Versagen kaum dokumentieren. Mit ihrem irrlichternden Vorsitzenden agiert die CHP nicht, sondern arbeitet sich emsig an der AKP-Agenda ab.

Die marginalisierte türkische Linke gibt kaum ein besseres Bild ab. Zersplittert in marxistische Kleingruppen, träumen die einen noch immer von der Revolution, andere brandmarken die kurdische Bewegung, vor allem die PKK, als von imperialen Staaten gelenkt. Die Folgen der Zerschlagung der Linken nach dem Militärputsch 1980 sind bis heute zu spüren. Die 1996 mit großem Tamtam gegründete Özgürlük ve Dayanışma Partisi (ÖDP, deutsch: Partei der Freiheit und Solidarität) hat heute genauso wenig Relevanz wie die türkischen Grünen.

Den letzten kurzen Sommer des Aufstands erlebte die Türkei vor drei Jahren bei den Gezi-Protesten. Für einige Tage schien eine Türkei jenseits der AKP und ihres Autoritarismus vorstellbar, in der auch ethnische Minderheiten und die LGBT-Community Platz fänden. „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“, hieß es sogar in Fußballstadien. Symbolisch noch bedeutender war es, dass in Metropolen wie Istanbul Solidaritätsbekundungen mit Protesten in den kurdischen Regionen zu vernehmen waren. In der Türkei existiert trotz 40 Jahren Bürgerkrieg bis heute keine breite gesellschaftliche Debatte zur sogenannten Kurdenfrage, was auch ein Ausdruck der schwachen Position von Intellektuellen in der Türkei ist. Wer Empathie für die Situation der Kurden artikuliert, gerät in Verdacht, die PKK zu unterstützten und die Einheit der Nation in Frage zu stellen. Unter solchen Bedingungen kann man die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie Journalisten und Intellektuellen, die trotzdem Position beziehen, nicht genug rühmen.

Der Niederschlagung des Gezi-Raves folgte nicht nur ein Kater, sondern ein politisches Vakuum, das die HDP (Demokratische Partei der Völker) bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 programmatisch zu füllen versuchte. Erstmals formulierte eine Partei eine klare politische Alternative zur AKP mit einer großen Bandbreite an Themen. Eine Botschaft, mit Hashtag in Umlauf gebracht, wurde zum geflügelten Wort und zum Verhängnis für die HDP: #SeniBaşkanYaptırmayacağız (Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen). Nach der verlorenen absoluten Mehrheit im Juni rief Erdoğan Neuwahlen aus und ließ in den kurdischen Gebieten wieder die Waffen sprechen. Die PKK beging den Fehler, darauf ihrerseits mit Waffengewalt und Attentaten zu antworten. Die Stimmung im Land kippte und im November 2015 errang die AKP wieder die absolute Mehrheit.

Wohin die Türkei nun steuert, ist nicht absehbar. Es wird dauern, bis Angst und Verunsicherung überwunden werden. Ob Erdoğan seinen Masterplan der „neuen Türkei“ umsetzt und von einer autoritären Demokratie in eine neue Form der zivilen Diktatur abdriftet, hängt davon ab, wie die NATO und die EU – Flüchtlingsdeal hin oder her – sich politisch positionieren. Wichtig ist darüber hinaus, dass Intellektuelle, zivilgesellschaftliche Organisationen, Demokratie- und Menschenrechtsaktivisten und demokratische Parteien in der Türkei Unterstützung aus dem Ausland erfahren, was man nicht supranationalen Organisationen und Regierungen überlassen kann.

Das politische Schicksal der demokratischen Türkei hängt aber ganz entscheidend davon ab, welchen Weg die kurdische Bewegung einschlägt und ob sich in der sogenannten „kurdischen Frage“ wieder eine politische Lösung abzeichnet. Denkbar, dass nach einem Referendum über die Einführung des Präsidialsystems ein noch weiter gestärkter Erdoğan einen neuen Anlauf in Sachen Friedensgespräche nimmt.

Demokratie der Vielheit

Ob die PKK an den Verhandlungstisch zurückkehrt, hängt vermutlich auch davon ab, ob das Rojava-Modell im Norden Syriens dann noch Bestand hat, wo ihre Schwesterorganisation YPG versucht, ein kommunales Demokratieexperiment zu etablieren, in dem Menschen unterschiedlicher Ethnien und Glaubensrichtungen friedlich zusammenleben. Inwieweit das bereits gesellschaftliche Realität ist, lässt sich schwer beurteilen, klar ist: Für die Türkei und andere Staaten in der Region stellt das Modell eine reale Gefahr dar. Noch futuristischer erscheint die politische Option, dass CHP und HDP sich annähern und mit liberalen Strömungen des Bürgertums, Gewerkschaften, Menschenrechts- und Demokratieorganisationen, der LGBT-Community sowie Post-Gezi-Aktivisten neue politische Optionen jenseits der etablierten Lager und des Kemalismus ausloten: eine pluralistische Demokratie der Vielheit als Gegenentwurf zum autoritären Erdoğanismus.

Zunächst aber orientiert sich die CHP weiterhin an der AKP. Zehn Tage nach dem Putsch versammelte sie 200.000 Menschen auf dem Taksim-Platz, die ihre Parteifahnen zu Hause ließen und dafür die Nationalflagge und Fahnen mit dem Konterfei von Mustafa Kemal Atatürk schwenkten. Kılıçdaroğlu vermied auf der mit der AKP abgesprochenen Kundgebung die Konfrontation mit der Regierungspartei und Erdoğan. Ob der CHP-Boss ausgerechnet so den Weg zu einer „erstklassigen Demokratie“ ebnen kann, die er sich für die Türkei wünscht?

İmran Ayata ist Campaigner und Autor. Zuletzt erschien sein Roman Ruhm und Ruin (Verbrecher-Verlag)

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