Aufforderung aus Kiew an ukrainische Männer in Deutschland: „Geht an die Front“
Ukraine-Krieg Um militärische Erfolge vorweisen zu können, braucht die Ukraine Rekruten. Kiew will dafür Männer, die ins Ausland geflohen sind, einberufen – auch aus Deutschland. Doch immer weniger wollen ihr Leben für den Krieg aufs Spiel setzen
Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow will Männer zurückholen, um sie in den Krieg zu schicken
Foto: Andrii Nesterenko/AFP via Getty Images
Mittlerweile sind im Krieg in der Ukraine nach Angaben der New York Times weit über 500.000 Menschen auf beiden Seiten getötet worden. Hinzu kommen noch weitaus mehr Verwundete. Der Übergang zu einer Wiederholung der Schlacht um Verdun im Ersten Weltkrieg war vorhersehbar. Kritische Friedens- und Sicherheitspolitiker, einschließlich des Verfassers, hatten vor einem solchen anhaltenden Stellungs- und Abnutzungskrieg schon im März 2023 gewarnt. Die Pentagon-Leaks vom April deuteten an, dass man auch im US-Kriegsministerium eine solche Entwicklung befürchtete, selbst wenn die meisten nach außen Siegesgewissheit versprühten.
Hiesige Medien hinderte das nicht, ihre Unterstützung von immer mehr Waffenlieferungen mit dem Versprechen eines schnellen mili
s nicht, ihre Unterstützung von immer mehr Waffenlieferungen mit dem Versprechen eines schnellen militärischen Durchbrechens zu verknüpfen. Militärexperten wie Marcus Keupp, die den Deutschen bis heute zur besten Sendezeit den Krieg erklären, prophezeiten, dass Russland „den Krieg im Oktober verloren haben“ werde. Die ukrainische Armee würde, so Keupp im Juni, bis Oktober dieses Jahres an zwei Stellen durch die schwach befestigte russische Front durchgebrochen, in die Großstädte Melitopol und Mariupol vorgerückt sein und sich anschließend von dort am Schwarzen Meer entlang weitermarschierend, in Berdyansk wiedervereint haben. Das sollten dann die Voraussetzung für eine schnelle militärische (Rück-)Eroberung der Halbinsel Krim sein. Das ist bisher nicht eingetroffen.Mittlerweile ist das vorhersehbare Scheitern der ukrainischen Frühjahrs- und Sommeroffensive auch im journalistischen Mainstream anerkannt. Die „Militärexperten“ lassen zwar bislang weder Eingeständnisse eines Irrtums oder Selbstzweifel von sich hören, noch haben ihre Irrtümer dazu geführt, dass ihr Expertenstatus in Zweifel gezogen wird, die Auffassung vom „unwinnable war“, die im Sommer noch skandalös war, hat sich mittlerweile dennoch verbreitet und macht selbst vor westlichen Akteuren des Kriegs wie Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht halt.Zunehmende Zweifel am Krieg in der UkraineDas gilt auch für die Ukraine. Auch wenn Russland für den Krieg verantwortlich ist, wird zum Ende des zweiten Kriegsjahres die Kritik an Krieg und Kriegführung der eigenen Regierung immer lauter. Sie hat sogar längst die Staatsapparate erreicht. Die Erfolgsmeldungen der Regierung in Bezug auf die Brückenkopfbildung am Dnipro, die hier von den bürgerlichen Medien noch einmal hoffnungsvoll weiterverbreitet worden sind, werden von den ukrainischen Soldaten dementiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj soll den Armeechef Walerij Saluschnyj nach Spiegel-Berichten mittlerweile mit dünnhäutigen Sticheleien konfrontieren: „Na, rücken wir heroisch vorwärts – mit einem neuen Rückzug um 200 Meter?“. Selbst das regierungsnahe Medium The Kyiv Independent hat sich jetzt gegen Selenskyj und die Kriegführung gestellt und am 18. Dezember auf X geschrieben: „Wenn die ukrainischen Kämpfer sagen, dass der Dnipro-Brückenkopf eine ,Selbstmordmission‘ ist, dann glaubt ihnen.“Der Blutzoll und die menschlichen Belastungen durch den Krieg sind immens. Das Durchschnittsalter der Soldaten der ukrainischen Streitkräfte liegt angesichts der – auf beiden Seiten – hohen Verluste nach Angaben vom TIME-Magazin mittlerweile bei 43 Jahren, zu Kriegsbeginn lag er noch bei Anfang 30. Die Zahl der Deserteure nimmt nicht nur auf der russischen, sondern auch auf der ukrainischen Seite zu. Sie soll nach Angaben des Merkur inzwischen bei über 40.000 liegen. Hinzu kommen die, die es noch kurz nach dem Erlass eines Ausreiseverbots für Männer zwischen 18 und 60 ins Ausland geschafft haben: Allein in Deutschland sollen es nach Angaben des Bundesinnenministeriums 203.640 männliche ukrainische Staatsangehörige im „wehrfähigen Alter“ sein.Die politische Lage in KiewSelenskyjs Umfragewerte sind unterdessen miserabel. Mit dem Kiewer Bürgermeister Klitschko und mit der Armeeführung liegt Selenskyj im Clinch, weil man dort die militärstrategische Realität (aner-)kennt und seinen Siegesoptimismus und die damit verknüpften Durchhalteparolen nicht teilt. Armeechef Saluschnyj sagte letzten Monat dem britischen "Economist": „Wie im ersten Weltkrieg haben wir ein Niveau der Technologie erreicht, das uns in eine Sackgasse bringt.“Selenskyjs ehemaliger Berater Oleksij Arestowytsch hat sich öffentlich von ihm distanziert und will später genauso wie Saluschnyj gegen Selenskyj antreten, weil auch nach seiner Auffassung der Krieg „in einer Sackgasse“ stecke, die Kriegführung „menschenfeindlich“ sei und „die Ukraine aktuell nicht als frei bezeichnet werden“ könne. Dabei sagt Arestowytsch selbstkritisch: „Die Wahrheit ist, dass ein großer Teil der Verantwortung für den Glauben des einfachen Bürgers an unseren schnellen Sieg bei mir persönlich liegt. Ich habe die Illusion geschaffen, damit wir überleben. Heute zerstöre ich sie, damit wir weiter überleben.“Während Arestowytsch die Notwendigkeit eines neuen Minsk-Abkommens und eine politische statt militärische Lösung fordert, hält Selenskyj die (lebens-)gefährliche Illusion einer Rückeroberung von Donbass und Krim jedoch aufrecht. Er hat dafür gute Gründe, denn mit dieser Illusion sind seine Präsidentschaft und Macht verknüpft. Diese Vermutung haben offenbar auch die Soldaten an der Front. „Die Kameraden“, sagte ein ukrainischer Überlebender des Versuchs, am Dnipro einen Brückenkopf zu bilden, „glauben, dass unsere Präsenz eher politischen als militärischen Zwecken“ diene.Einberufung für in Deutschland lebende UkrainerWenn das Kriegsrecht Wahlen zulassen würde, würde Selenskyj vermutlich abgewählt werden. Er braucht also dringend einen militärischen Erfolg, denn auch mit seinem Dekret von Anfang Oktober 2022, das Verhandlungen grundsätzlich verboten hat, gibt es für ihn außer diesem keine Option. Dafür braucht es jedoch neue Rekruten, von denen die Armee eine halbe Million fordert. Die seit Monaten immer wieder kursierenden Gerüchte eines Einberufungsbefehls für die in Deutschland lebenden Ukrainer im „kriegstüchtigen“ Alter zwischen 18 und 60 Jahren haben sich nun bewahrheitet.„Wir schicken ihnen eine Einladung und es ist dann ihr Recht, zu uns zu kommen und zu dienen“, zitierte Spiegel Online den ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow. Was nach Freiwilligkeit klingt, ist indes das Gegenteil hiervon. Entsprechend habe Umjerow, so das Hamburger Nachrichtenmagazin, zugleich klargemacht, „dass es Strafen für diejenigen geben werde, die der Aufforderung nicht Folge leisten.“„Wir besprechen noch“, zitiert Spiegel Online Umjerow, „was passieren soll, wenn sie nicht freiwillig kommen.“ Es sei „ja keine Strafe, für das eigene Land einzutreten und dem Land zu dienen. Es ist eine Ehre.“ CDU/CSU haben bereits Sympathien für die Forderungen aus der Ukraine geäußert, obwohl eine solche Massenabschiebung in die Ukraine gegen die Menschlichkeit, gegen das Menschenrecht auf Wehrdienstverweigerung und gegen das deutsche Asylrecht verstoßen würde.Wenn die gesellschaftliche Stimmung kipptOb aber alle ukrainischen Männer so „kriegstüchtig“ sind, wie sich dies die Regierung erhofft? Schließlich hindert die ukrainischen Männer bislang ja niemand, sich freiwillig für den Krieg zu melden. Gerade darum bedarf es ja nun des Zwangs. Womöglich ist die Geschichte der Schlacht von Verdun 1916 im Ersten Weltkrieg ein Fingerzeig, was in aussichtslosen Kriegssituationen passiert. Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres wendete sich das Blatt und an der Heimatfront entfaltete sich die Dialektik des Kriegs. An die Stelle der ursprünglich vaterländisch-patriotischen Stimmung insbesondere in der meinungsmachenden bürgerlichen Klasse und ihren Medien trat die Revolte gegen den „nicht zu gewinnenden Krieg“ und die Kriegsfolgen Tod, Traumatisierung, Inflation, Verarmung, „Steckrübenwinter“: Angefangen mit den sich von Berlin ausbreitenden „Butterkrawallen“ 1916 über die so mächtigen Streiks in den Rüstungsfabriken 1917 bis zur Massenrevolte der Soldaten in Kiel und Wilhelmshaven ein Jahr später, die wie ein Funke soziale und Antikriegsrevolution der Arbeiter und Soldaten in Deutschland entfachten.Diese allgemeine Dialektik des Krieges zwischen Herrschaftsstabilisierung und Destabilisierung war auch noch in der jüngeren Vergangenheit in den USA nach 9/11 wirksam. Das ultranationalistische und militaristische Klima nach den Terroranschlägen sicherte sowohl die gesellschaftliche Unterstützung für die Kriege der Bush-Administration in Afghanistan und dem Irak als auch George W. Bushs Wiederwahl zum US-Präsidenten 2004. Mit Hurrikane Katrina ein Jahr später wandelte sich die Stimmung jedoch schlagartig. Ergebnis waren der Erdrutschsieg der Demokraten bei den Wahlen für das Repräsentantenhaus und den Senat 2006 und schließlich die Präsidentschaft von Barack Obama 2008, der sich im Wahlkampf als Antikriegskandidat geriert hatte.Desertieren bleibt riskant„Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte“, schrieb Kurt Tucholsky acht Jahre nach der revolutionären Beendigung des Massensterbens im Ersten Weltkrieg unter dem Titel „Wo waren Sie im Kriege, Herr --?“. Er habe „viele Mittel“ angewendet, „um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte: keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätt' ich verschmäht. Viele taten ebenso.“Und sie tun es auch heute wieder, auf beiden Seiten. Die Reichen, indem sie bestechen. So wurden allein in der Ukraine schon im Sommer 112 Ermittlungsverfahren wegen Korruption gegen Beschäftigte in Wehrersatzämtern eingeleitet. Die Armen, indem sie sich in größte Gefahr begeben und untertauchen. Und dabei nicht auf die Unterstützung aus Europa zählen dürfen. Denn die EU duldet nicht nur den Massentod ukrainischer Männer an ihren Außengrenzen. Mehr als Zehntausend sollen beim Fluchtversuch ums Leben gekommen sein, während nach Regierungsangaben mindestens 20.800 ukrainische Männer vom ukrainischen Grenzschutz festgenommen worden sind, weil sie versucht hatten, zu fliehen.Und dennoch scheint das sinnlose Töten und Sterben im laufenden Abnutzungskrieg dazu zu fühen, dass die russische wie die ukrainische Regierung befürchten müssen, dass Tucholskys Haltung unter ihren jeweiligen Rekruten allmählich wieder Zustimmung erfährt. Die Dialektik des Kriegs entfaltet sich.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.