Wehrpflichtige Ukrainer in Deutschland: Kann Kiew sie zurückholen?
Interview Die Ukraine denkt darüber nach, wehrpflichtige Männer aus dem Ausland zurückzuholen. Müsste Deutschland dem nachkommen und Flüchtlinge in den Krieg abschieben? Antworten von der Völkerrechtsexpertin Heike Krieger
Zug nach Bukarest am Bahnhof Sighetu Marmației in Rumänien, kurz hinter der ukrainischen Grenze, Februar 2022
Foto: Stuart Franklin / Magnum Photos / Agentur Focus
Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 hat der ukrainische Grenzschutz 20.000 Männer im wehrpflichtigen Alter an der Flucht aus dem Land gehindert. Die Zahl derer, denen der Fluchtversuch gelang, beträgt allein in Deutschland über 160.000, EU-weit 650.000. Das wäre dreieinhalbmal die Bundeswehr. Eine Zahl, die Militärexperten zufolge kriegsentscheidend sein könnte. Da wundert es kaum, dass Kiew jetzt erwägt, die Auslieferung der Wehrpflichtigen zu beantragen. Und dann? Ein Gespräch über neue Kriege, die alte Fragen aufwerfen.
der Freitag: Frau Krieger, kann die Ukraine wehrpflichtige Männer aus dem Ausland zurückfordern?
Heike Krieger: Die erste Frage ist: Warum haben sie bei uns einen legalen Aufenthaltstitel? Alle ukrainischen Flüchtli
e Ukraine wehrpflichtige Männer aus dem Ausland zurückfordern?Heike Krieger: Die erste Frage ist: Warum haben sie bei uns einen legalen Aufenthaltstitel? Alle ukrainischen Flüchtlinge dürfen sich aufgrund einer speziellen EU-Richtlinie, der Massenzustromrichtlinie, in den EU-Staaten aufhalten – ohne, dass es eines individuellen Asylverfahrens bedarf. Diesen Schutzstatus müsste man ihnen wieder entziehen. Das geht am ehesten über Artikel 28 der Massenzustromrichtlinie. Der sieht vor, dass die Mitgliedstaaten jemanden von diesem Schutz ausschließen können, der ein schweres Verbrechen in einem anderen Staat begangen hat. Auf Kriegsdienstverweigerung während der Mobilmachung stehen nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch drei bis fünf Jahre. Ob das schon ein schweres Verbrechen darstellt, würde ich bezweifeln, aber da kann man sicherlich unterschiedlicher Ansicht sein. Deutschland würde ukrainische Kriegsflüchtlinge als Verbrecher abschieben?Ja, im Grunde wäre das so. Ich finde das auch fraglich. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte. Wenn man den Schutz auf diese Art aufhebt, bleibt die Frage, ob die Betroffenen sich nicht doch auf einen Abschiebungsschutz berufen können. Anwaltlich wären sie gut beraten, Asylrecht geltend zu machen. Da kämen wir dann zu der sehr umfangreichen Rechtsprechung zur Kriegsdienstverweigerung, das wäre alles im Einzelverfahren zu klären. Speziell für Deserteure, also Angehörige der Streitkräfte, spricht noch ein weiterer Punkt dagegen. Nach dem europäischen Auslieferungsabkommen, auf dessen Grundlage die Ukraine ihren Antrag stellen müsste, sind Militärstraftaten von den Verbrechen ausgenommen, derentwegen jemand ausgeliefert werden muss. Sich als Angehöriger der Streitkräfte dem Dienst zu entziehen, ist eine solche Militärstraftat – die Flucht eines wehrpflichtigen Mannes ist dagegen eine einfache Straftat.Hätte ein Deserteur also bessere Chancen, hier bleiben zu dürfen, als ein einfacher Wehrpflichtiger?Ja. Es gibt auch Rechtsprechung zu Syrien, da hat ein deutsches Verwaltungsgericht festgestellt, dass Deserteuren die Flüchtlingseigenschaft zukommen kann, weil sie schwere Verfolgung bis hin zu Folter und Todesstrafe befürchten müssen. Wehrpflichtige dagegen, die sich den Streitkräften entziehen, sind nicht dem gleichen Risiko ausgesetzt. Wieso ist die Aussicht auf Verfolgung und Folter Grund genug, fliehen zu dürfen, nicht aber die Aussicht auf erzwungene Teilnahme an einem Krieg? Das ist eine sehr alte Frage. Gibt es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Völkerrecht? Einige UN-Gremien erkennen es an, aber es gibt auch Stimmen, die sagen, es gelte nur für besondere Konstellationen. Grundsätzlich sei es das hoheitliche Recht eines Staates, seine Bürger zum Kriegsdienst heranzuziehen. Und gerade die Ukraine verteidigt sich unter Artikel 51 der UN-Charta, dem Selbstverteidigungsrecht. Wenn ein Staat dieses Recht hat, so die Argumentation, muss er auch die Möglichkeit haben, auf seine Bürger zuzugreifen. Dem kann man drei Fälle entgegenhalten. Der erste, nicht unumstrittene Fall wäre eine diskriminierende Einziehung zum Kriegsdienst. Das ist in der Ukraine wohl nicht der Fall. Der zweite Fall wäre eine unverhältnismäßig hohe Strafe, Inhaftierung über erhebliche Zeiträume oder andere Formen willkürlicher Strafe wie im syrischen Beispiel. Der dritte Fall wäre, wenn man zum Mitwirken an Kriegsverbrechen gezwungen wird. Für die russischen Soldaten, die desertieren oder sich der Einziehung entziehen, dürfte das greifen. Aber bei der Ukraine gibt es dafür bislang keine hinreichenden Hinweise.Und was ist mit Männern, die trotz staatlicher Selbstverteidigung und keinerlei Kriegsverbrechen einfach nicht mit der Waffe kämpfen wollen?Die können sich unter Umständen auf Artikel 4 des Grundgesetzes berufen. Dafür muss es eine fundamentale Gewissensentscheidung sein, die immer und unter jeder Bedingung die Ausübung des Wehrdienstes ausschließt. Da gab es einen jüngeren Fall, in dem es um die Türkei ging. Das Gericht hat das Argument, man wolle nicht in einem bewaffneten Konflikt mit den Kurden kämpfen, nicht anerkannt. In Artikel 4, so das Gericht, ginge es nicht um einzelne Konflikte, sondern das Grundprinzip, aus Gewissensgründen oder aus religiösen Gründen jede Form des Kriegsdienstes zu verweigern. Man darf nach Artikel 4 also sagen: gar kein Krieg, jemals, aber man darf sich nicht aus politischer Überzeugung einem speziellen Krieg verweigern.Wenn es dazu kommt, dass Kiew die wehrpflichtigen Männer zurückfordert, müsste also jeder Ukrainer, der nicht will, einzeln vor Gericht ziehen – und der Ausgang wäre ungewiss?Ja. Das wäre meiner Ansicht nach auch ein Grund, weshalb Deutschland einem solchen Ersuchen nicht nachkommen sollte. Letzten Endes sind aber sowohl die Rechtsregeln als auch die Rechtsprechung so konzipiert, dass ein Staat seine Bürger dazu verpflichten kann, in den Krieg zu ziehen. Und wenn dieser Krieg ein Verteidigungskrieg ist, unter Artikel 51 der UN-Charta also völkerrechtlich rechtmäßig, und es keine Indizien für Kriegsverbrechen gibt, dann gilt die Grundannahme, dass die anderen Staaten das auch respektieren müssen. Zynisch könnte man sagen, der russische Pazifist hat Glück gehabt, dass sein Land völkerrechtlich im Unrecht ist. Währenddessen hat der Ukrainer doppelt Pech: Sein Land wird angegriffen und er darf nicht einmal fliehen.Man muss sich Folgendes vor Augen führen: Auch wenn das Völkerrecht in seiner Entwicklung durch den Pazifismus beeinflusst worden ist, ist es keine pazifistische Rechtsordnung. In weiten Teilen ist es an Souveränitätserwägungen und nationalstaatlichen Interessen ausgerichtet. Das wird an der zögerlichen Entwicklung eines völkerrechtlich anerkannten Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und seiner etwaigen Bedeutung als Abschiebungsverbot deutlich.Placeholder infobox-1