Im Krieg sterben keine Männer – es fallen bloß Soldaten
Entmenschlichung Weit über 100.000 Soldaten sind im Ukrainekrieg bisher gefallen – die Trauer darüber aber findet keinen Platz. Zählt das Leben von Männern in Zeiten der Wehrhaftigkeit nicht?
Auch Selbstverteidigung ist nicht romantisch, sie ist brutal und mörderisch
Foto: Bartosz Ludwinski/laif
Sterben im Krieg eigentlich Menschen? Es wirkt nicht so. Sechsstellig ist die Zahl der in der Ukraine gefallenen Soldaten, lesen wir. Allein in der blutigen Schlacht um Bachmut sollen 20.000 russische Söldner gefallen sein. Und ukrainische Soldaten? Genau weiß man es nicht. Schätzungen, von der US-Regierung. Propaganda, vom russischen Söldner-Chef. Jedenfalls insgesamt: sechsstellig.
Was machen diese Zahlen mit uns? Gehen sie in die Magenkuhle, spüren wir Tränen aufsteigen? Sehen wir die zerrüttete Familie vor uns, die ihren Ehemann, ihren Bruder, ihren Freund verloren hat? Oder sehen wir eher die Fotos der Gräber, die durch die Medien gingen, militärisch in Reih und Glied aufgeschüttete Erdhügel, auf jedem ein orthodoxes Kreuz, auf jed
edien gingen, militärisch in Reih und Glied aufgeschüttete Erdhügel, auf jedem ein orthodoxes Kreuz, auf jedem ein Plastik-Blumenkranz der Gruppe Wagner in Schwarz, Gelb und Rot? Oder die anderen Erdhügel, die auf den ukrainischen Friedhöfen, mit den blau-gelben Flaggen?Es wirkt nicht so, als stürben in diesem Krieg Menschen. Es wirkt, als stürben in diesem Krieg bloß Soldaten. Und Soldaten sterben ja eigentlich nicht, sie fallen. Werden Soldaten betrauert? Oder als Helden gefeiert? Es scheint, als hätten Männer im Krieg gar kein Leben mehr, als wären sie zu Waffen geworden. Spüren wir gerade die Entmenschlichung männlichen Lebens?Dabei wachsen die Friedhöfe, in Russland und in der Ukraine. Bei einer Recherche von Zeit Online kann man dabei förmlich zusehen: Satellitenbilder aus dem südrussischen Dorf Bakinskaja vom Februar 2022, grün bewachsene Flächen neben dem Dorffriedhof. Januar 2023: Eines der grünen Felder ist weg, 200 frische Gräber in engen Reihen. März 2023: Weitere grüne Felder verschwinden, nun sind es 500 Gräber. April 2023: 600 Gräber.Ein Soldat ist Held oder Hund, aber in keinem Fall MenschAuf diesem Friedhof hat sich Jewgeni Prigoschin filmen lassen, der Gründer der Gruppe Wagner, im Hintergrund Hunderte Kreuze, „zum Kämpfen gehört manchmal das Sterben“, sagt er. Das gilt für die Helden. Und dann gibt es für den Oligarchen noch die anderen: die Hunde. Wer desertiert oder sich ergibt, den lässt Prigoschin von den anderen Söldnern mit dem Vorschlaghammer erschlagen: „Ein Hund empfängt den Tod eines Hundes.“ Prigoschins Männer können Helden sein, oder Hunde. Mensch sein dürfen sie nicht.Wie viele seiner Söldner genau gestorben sind, das weiß zwar keiner, von über 30.000 liest man. Wie viele Soldaten der regulären russischen Armee sind gestorben? Auch das weiß keiner so genau. Aber auch deren Gräber sind über Satellitenbilder zu sehen. Die schmalen Wege durch diese neuen Grabreihen der russischen Friedhöfe heißen: Heldenalleen.„Superhelden“ nannte Wolodymyr Selenskyj die Verteidiger Bachmuts.Die Helden der Nationen, sie haben eines gemeinsam: Sie sterben nicht. Menschen sterben, durch Krankheit oder Unfall. Ein Held aber fällt. Stolz betäubt die Trauer. Manche von uns mag das nachvollziehen können, den ukrainischen Stolz auf einen Sohn, Ehemann oder Vater, der im Kampf gegen die Angreifer gestorben ist. Aufgeopfert, für die Verteidigung derer, die weiterleben sollen, um diese Freiheit zu erleben.Nur: Für diesen Helden ist ein Mensch gestorben. Gestorben ist ein schnarchender Mann auf der anderen Seite des Bettes, der jetzt nur noch eine Kuhle unter einem kühlen Laken hinterlässt. Für den Helden gestorben ist ein in der Disko tanzender und lachender und liebender Mann, ein mit seinem Sohn im Wasser herumtollender Mann, ein sanft den Nacken seines neben ihm schlafenden Partners streichelnder Mann, ein nachts in die Halskuhle seiner Frau weinender Mann.Aus Vietnam kehrten Verlobte und Söhne im Sarg zurückHelden aber sind keine Menschen. Das ist wichtig im Krieg. Denn wären Soldaten Menschen, würden Menschenleben betrauert, ohne dass Heldentum diese Trauer betäubt. Und wenn das Heldentum nachlässt und die Trauer überhandnimmt, dann zählen die Toten. Und wenn die Toten zählen, dann wollen zu viele den Krieg nicht mehr. Erinnert sei an Vietnam, als zurückkehrende Särge keine Helden mehr bargen, sondern Söhne, Geliebte und Verlobte. Vor allem Regierungen von Angriffsstaaten müssen alles dafür tun, dass ihre Toten nicht als Menschen zählen. Dass sie unbetrauerbar sind.Unbetrauerbar, ungrievable: Das ist eine Begriffsschöpfung der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler. Butler ist eigentlich für ihre Arbeit zur kulturellen Konstruktion der Geschlechter bekannt. Ihre Gedanken über prekäres Leben und die Macht von Trauer sind jedoch ebenfalls ein wichtiger Beitrag für das Verständnis von sozialer Ungleichheit: „Nur unter Bedingungen, unter denen sein Verlust von Bedeutung wäre, erscheint der Wert des Lebens. Die Betrauerbarkeit ist eine Voraussetzung für das Leben, das zählt“, schreibt Butler. Ein Leben, das kein Zeugnis habe, das von niemandem betrauert werde, sei hingegen ein Leben, das nicht zähle.Butler schreibt diese Zeilen, nachdem die USA in Afghanistan und Irak einmarschiert sind. Sie meint: „Eine Möglichkeit, die Frage zu stellen, wer ‚wir‘ in diesen Kriegszeiten sind, ist die Frage, wessen Leben als wertvoll angesehen werden, wessen Leben betrauert werden und wessen Leben als unbetrauerbar angesehen werden. Wir können uns den Krieg vorstellen als Aufspaltung der Bevölkerungen in jene, die betrauerbar sind, und in jene, die es nicht sind.“ Um auf die Särge aus Vietnam zurückzukommen: 58.220 US-Soldaten starben dort, 1,5 Millionen Südvietnamesen. Wer zählte? Wer war betrauerbar, für wen?Natürlich liegt es nahe, Butlers Analyse zunächst auf die zwei Kriegsparteien zu übertragen. Wer ist für uns in Westeuropa betrauerbarer, die Toten auf russischer Seite – oder die Toten auf der angegriffenen Seite? Wenn man genauer hinschaut, durchzieht die ungleiche Verteilung der Betrauerbarkeit jedoch auch die Bevölkerungen selbst. Das fängt schon mit dem Versuch an, Männer an die Front zu schicken, deren Leben weniger zählen als andere.Zuerst müssen die Minderheiten an die FrontDer Reporter Daniel Schulz reist regelmäßig in die Ukraine und schreibt: Es sind Kolonisierte, die die russische Armee zuerst an die Front geschickt hat, Soldaten aus Burjatien und Tuwa. Angehörige von Minderheiten innerhalb der Russischen Föderation. Die russische Regierung, schreibt Schulz, will Männer in Moskau und Sankt Petersburg möglichst nicht rekrutieren, „damit der Widerstand nicht wächst“. Warum wächst der Widerstand langsamer, wenn Burjaten oder Tuwiner sterben?Auch Söldner-Chef Prigoschin weiß, wessen Leben weniger betrauerbar ist als anderes. Er rekrutiert Menschen aus Straflagern, und wie wenig Familie sie haben, das wird in den Berichten angedeutet, die uns über die Hintergründe Gefallener erreichen. Wir erfahren von Kleinkriminellen, die in Kinderheimen aufgewachsen sind, von Söhnen abgehauener Väter und drogensüchtiger Mütter, von verschuldeten jungen Männern. Die besten Kämpfer für Prigoschins „Fleischwolf“ sind jene, die nichts zu verlieren haben. Deren Tod für niemanden ein Verlust ist. Betrauerbarkeit ist eine Frage der Macht, also eine Frage der Armut: Armut an menschlichen Beziehungen.Betrauerbarkeit ist im Krieg aber vor allem eine Frage des Geschlechts. Zwar kämpfen auch Frauen in den Armeen, zwar rekrutieren Prigoschin und die russische Armee inzwischen auch Frauen aus Frauengefängnissen. In Israel sind Frauen wehrpflichtig. Aber das sind Einzelfälle. In den meisten Staaten zieht in Kriegszeiten eine wesentliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein: Wehrpflichtig sind Männer, nicht Frauen. Es lässt sich nicht leugnen. Im Krieg zählt das Leben von Frauen mehr als das Leben von Männern.Wer ist im Krieg ein Mann, wer eine Frau? In Deutschland wird derzeit ein Gesetz erarbeitet, das transgeschlechtlichen Personen ermöglichen soll, ihr rechtliches Geschlecht per Selbsterklärung anzupassen. Nicht umsonst birgt der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung einen Passus, der eine Änderung des Geschlechtseintrags während eines „Spannungs- oder Verteidigungsfalls“ verbieten soll – aber nur in einer Richtung: von männlich zu weiblich. Warum sollten Männer im Kriegsfall das Selbstbestimmungsgesetz missbrauchen und sich, entgegen ihrer Geschlechtsidentität, als Frauen ausgeben?Der Tod ist männlich, die Trauer ist weiblichWeibliches Leben wird geschützt, männliches Leben wird zum Schutz eingesetzt. Weibliches Leben ist das zivile Leben, das zum Überleben gedacht ist, und männliches Leben wird zum Soldaten, der zum Kämpfen gedacht ist. Weibliches Leben darf und soll fliehen und sich in Sicherheit bringen. Männliches Leben darf nicht fliehen. Weibliches Leben soll die Freiheit der Zukunft genießen. Männliches Leben soll sich für die zukünftige Freiheit des weiblichen Lebens aufopfern. Es scheint, als würde sich männliches Leben im Krieg transformieren: in Kampfeskraft, in Heldentum.„Ohne Betrauerbarkeit“, schreibt Butler, „gibt es kein Leben, oder besser gesagt, es gibt etwas Lebendes, das etwas anderes ist als Leben.“ Ein Soldat ist etwas Lebendes, aber der Mann in ihm, hat er kein Leben?Je länger ein Krieg andauert, je mehr Angehörige ihre Lieben verlieren, desto eher findet die Trauer ihren Weg. Der Söldner Andrej, der aus der Haft wegen Diebstahls von der Gruppe Wagner rekrutiert wurde und über den der Spiegel berichtet: Er hat eine Tante und eine Pflegemutter, Larissa und Lidija. Sie betrauern seinen Tod.Im Krieg mag der Tod männlich sein, die Trauer ist weiblich.Noch ist es still um die Soldatenmütter, einst eine der wirkmächtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland. Doch wird mit der Trauer in Kriegszeiten ebenso Politik gemacht wie mit den Zahlen der Toten. Es kursieren Berichte über russische Soldatenmütter, die ihre Söhne nicht betrauern, sondern als Helden feiern oder froh sind über das Geld, das sie von der russischen Armee erhalten. Nicht gezeigt werden die Verzweiflung, die Tränen. Die Trauer aber wird einen Weg finden.Im Krieg entsteht toxische Männlichkeit für GenerationenAuch in der Ukraine. Wie trauern Mütter, Schwestern, junge Söhne, alte Väter um ihre Angehörigen, die ihr Leben vor dem russischen Angriff verteidigen? Die Frage des Heldentums stellt sich in einem angegriffenen Land anders als in einem angreifenden Land. Doch auch in den ukrainischen Soldatenuniformen stecken Menschen, und auch hier enden Leben, die für jemanden zählen. Auch in der Ukraine wird getrauert, und der Ausgang des Krieges wird sich eines Tages an der Größe dieser Trauer messen lassen müssen.Was in diesem Krieg unterdessen mit Männlichkeit passiert, wird Folgen haben für Generationen. Ein Soldat, der kein Mensch mehr sein darf, wird ein Mann, dem ein Panzer wächst; ein Mann, der nicht schwach, nicht traurig, nicht krank sein darf; ein Mann, der schützen muss und Held sein muss und der nicht weinen und zittern und wimmern darf. Das spüren wir noch heute, als Folge der Weltkriege und des Faschismus: Emotional abwesende Panzer-Väter geben ihre Panzer an Söhne weiter, deren Söhne noch immer daran knacken. Im Krieg wird jene Kultur der Geschlechter produziert, die noch viele nachfolgende Generationen als toxische Männlichkeit zu spüren bekommen. Im Krieg heißt sie: Wehrhaftigkeit.Manchmal muss man sich wehren, im Angriffskrieg auch mit Gewalt. Aber Verteidigung ist nicht romantisch, sie ist brutal und mörderisch. Und wenn nur Männer das kriegerische Wehren übernehmen, dann ist das keine Gleichstellung, sondern Ungleichheit. Wie also geht Gleichstellung im Krieg? Wenn sie gleichberechtigtes Soldatinnenwerden bedeutet – wer bleibt dann zivil? Wer bleibt Mensch?