Alle Wege führen nach Westen

Mittelstreifen In Thomas Hettches Roman "Woraus wir gemacht sind" erliegt der Held der Faszination des amerikanischen Imperiums

Alle Wege führen nach Rom. Der Satz taugt heute höchstens noch als Metapher. Das Römische Reich ist längst untergegangen, Rom ist eine europäische Hauptstadt von vielen. Doch wer gelegentlich auf die Reste des untergegangenen Imperiums stößt, spürt noch immer seine Prägekraft. Als der junge Autor Niklas Kalf, Held des neuen Romans von Thomas Hettche, einmal in Barcelona auf ein paar alte Quader trifft, die unter Straßenniveau verborgen liegen, weiß er sofort: "Rom". Und empfindet die Mauerreste als das "offene Skelett der Welt".

Die Idee des Imperiums durchzieht wie ein roter Faden Woraus wir gemacht sind. Der 1964 geborene Berliner Autor erzählt darin die Geschichte eines deutschen Biografen, der für ein Buch über den jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz eine lebensgefährliche Recherchereise in die USA unternimmt. Doch so wie der entschlusslose Held Kalf auf dieser Reise durch die Neue Welt sich immer weiter von Europa entfernt, wirkt dieser Roman wie der Nachvollzug eines epochalen shifts of power.

Der Roman beginnt in New York. Kurz nach der Ankunft wird Kalfs schwangere Frau Liz über Nacht aus dem gemeinsamen Hotelzimmer entführt. Unbekannte wollen von ihm Papiere aus dem Nachlass von Meerkaz erpressen, der als Nuklearphysiker in Kalifornien gearbeitet hat. Auf der Suche nach seiner Frau landet Kalf im texanischen Marfa und schließlich in Los Angeles. Doch die eigentliche Energie, die dieses Buch und seinen Leser vorwärts treibt, speist sich aus einer anderen Quelle.

Kalf, ein europäischer Intellektueller der Nachkriegsgeneration, gerade vierzig Jahre alt geworden, beginnt der amerikanischen Kultur zu erliegen. Zunächst geht es ihm wie vielen, die die im Kopf gespeicherten Amerika-Bilder mit der Realität vergleichen und feststellen, dass es dort tatsächlich so aussieht wie in Film und Fernsehen. "Jeder betritt Amerika in seinen Träumen zuerst", fährt es Kalf durch den Kopf, als das Flugzeug zum Landeanflug auf Los Angeles über das unendliche Lichtermeer schwenkt und er überlegt, wo er das schon einmal gesehen hat.

Immer problemloser taucht Kalf in den amerikanischen Alltag ein mit seiner glatten Dienstleistungsmentalität des "You are welcome". Er berauscht sich an der Weite der Landschaft, vergisst fast seine entführte Frau und formuliert eine Erkenntnis vieler USA-Reisender: "Hierzubleiben, wußte er, wäre die Versuchung. Für immer Teil zu sein, dieses Landes". In Woraus wir gemacht sind erzählt Hettche viel, aber vor allem erzählt er die Geschichte einer inneren Kolonisierung.

Das Reich, dem dieser Niklas Kalf erliegt, ist allerdings kein Schlaraffenland. Und zwar nicht nur, weil er schließlich in ein mörderisches Komplott gerät. Hinter der entspannten Benutzeroberfläche aus Fast-Food und easy-going lauert die latente Aggression dieses Imperiums. Man muss sich diesen Roman wie einen Film vorstellen, an dessen unterem Bildrand immer eine Nachrichtenleiste mitläuft: Am selben Abend, als Niklas und Liz in New York ankommen, schwört das "wölfische Lächeln des Präsidenten" Bush im Fernsehen die UN ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September auf den Kampf gegen den Terror ein. Das Buch endet mit dem Ultimatum Bushs an Saddam Hussein, den Irak binnen achtundvierzig Stunden zu verlassen: "Morgen konnte Krieg sein", schießt es Kalf durch den Kopf. Europa existiert in diesem Teil der Welt nur noch als Kolonie am Rande, vor dessen Mauern die USA patroullieren. Sie wird regiert von einer kruden Ideologie aus Satanismus und High-Tech. So muss man das Geheimnis von Meerkaz wohl deuten, dem Kalf schließlich auf die Spur kommt.

"Relevanter Realismus" hieß die Reizvokabel jenes literarischen Manifestes, mit dem Martin Dean, Thomas Hettche, Michael Schindhelm und Matthias Politycki im Juni 2005 einen heftigen Literaturstreit auslösten. Nach den experimentellen Anfängen in seinem furiosen Wenderoman Nox (1995) schien mit Hettches Auftauchen in diesem Kontext mal wieder ein Avantgardist in das Lager des konventionellen Erzählens gewechselt. Schon sein Kriminalroman Der Fall Arbogast (2001), der die Geschichte eines angeblichen Sexualstraftäters in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre rekonstruiert, war als ästhetische Wende des Autors gedeutet worden.

Die "Brücke zwischen Realität und Fiktion", die das Quartett der Realisten in Zukunft bauen wollte, hat Hettche nun im neuen Roman quasi mustergültig umgesetzt. Das Wüstenkaff Marfa, in dem Kalf einige Monate tatenlos verbringt, weil er einem Mittelsmann Meerkaz´ auf die Spur kommen will, ist kein Phantasieort, sondern existiert tatsächlich. Man folgt Kalf bis in das alte Fort, in dem bis 1945 deutsche Kriegsgefangene aus dem Zweiten Weltkrieg interniert waren und in dem der amerikanische Minimal-Artist Donald Judd später ein Museum eingerichtet hat.

Urplötzlich wechselt Hettche dann ins Unwirkliche. Er lässt seinen verwirrten Helden an einer Tankstelle einem alten Mann folgen, der behauptet, etwas von seiner Frau zu wissen. In der schillernden Kunstfigur fließen alle amerikanischen Ikonen von William Burroughs bis Al Pacino zusammen. Mit ihm diskutiert er auf einer Ranch über Hitler und die Deutschen, die Wiederkehr der Geschichte und die Macht des amerikanischen Kinos. Der Thriller, der den Leser über solche Ausflüge ins Phantastische hinweg bei der Stange halten soll, ist freilich eine Idee zu abgedreht, um ihn als "realistisch" durchgehen zu lassen. Dazu kommt Kalfs Hang zur elegischen Geschichtsphilosophie: "Eine Drift hat uns erfaßt, die alles ändert, was wir kennen" schwant ihm einmal der ganze große Zeitenwechsel. Zu allem Überfluss plagt den im Grunde seines Herzens einsamen Mann auch noch die Midlife-Crisis. Mehr als einmal fragt man sich bei der Lektüre, ob es dieser Verschlingung von bedeutsam aufgeladenen Motiven mit einer Vielzahl von Genres bedurft hätte, um erzählen zu können, was Kalf, Alter Ego des USA-Reisenden Hettche, prototypisch erleidet: Die Lust an und das Erschrecken über die Amerikanisierung.

Die überzeugendste Ingredienz dieses Romans ist vielleicht noch der Road-Movie, in dem sich unser blasser Held von der Ost- an die Westküste der USA durchschlägt. Das Imperium, das er dabei durchquert, ist zwar ein reales Land und eine zähnefletschende Militärmacht, aber vor allem eine Lebensweise. Ihr geistiger Kern ist eine Bewegungsrichtung. "Der Mittelstreifen bohrte sich in die Perspektive wie ein honiglangsamer Pfeil in die Zeit und ging mitten durch ihn hindurch", beobachtet Kalf einmal bei seiner Fahrt Richtung kalifornische Küste. Ganz neu ist das Motto nun auch nicht, das Hettche da mit diesem wunderschönen Bild aufruft: Alle Wege führen nach Westen .

Thomas Hettche. Woraus wir gemacht sind. Roman. Kiepenheuer Köln 2006, 320 S., 19,90 EUR


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