Gehören Sammler ins Museum? Gebührt ihren privaten Kunstschätzen dort ein Vorzugsplatz? Als im Sommer in Berlin die Friedrich-Christian-Flick-Collection ihre Tore im Hamburger Bahnhof öffnete, war das Geschrei groß. Von einer Überwältigung des Museums durch private Förderer war die Rede, von einer Selbstaufgabe der Kulturpolitik. Im Blick auf die Details des Deals mit dem kunstsinnigen Erben des auf Blut gegründeten Flick-Vermögens war dieser Vorwurf berechtigt. Doch der politisch grundierte Streit verdeckte, dass das Museum nicht der autonome Hort ist, in dem die Kunstgeschichte ihres hehren Amtes waltet, frei von den Interessen ihrer Zeit. Denn das Kunstmuseum entstand aus dem Bedürfnis nach Selbstdarstellung des deutschen Bürgertums.
Kaum irgendwo kann man diese Geschichte besser verfolgen als im Museum der bildenden Künste, das jetzt in Leipzig genau 61 Jahre nach seiner Zerstörung im letzten Weltkrieg wieder eröffnet wurde. Denn das Museum, das die Stadt am 18. Dezember 1858 auf dem Augustusplatz eröffnete, trug zwar den Namen "Städtisches Museum". Doch ohne den Druck des Bürgertums wäre der Bau nie errichtet worden. Als 1853 der Leipziger Kaufmann Adolf Heinrich Schletter starb, hinterließ er der Stadt nämlich seine umfangreiche Kunstsammlung und die Mittel für ein Museum nur unter der Bedingung, dass sie innerhalb von fünf Jahren ein Museum dafür baue. Und noch heute bildet Schletters Sammlung französischer Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts einen zusammenhängenden Kernbestand des Museums, ohne dass sich öffentlicher Protest erhöbe. Mit Kunstvereinen und Museen meldete das Bürgertum seinen kulturellen Führungsanspruch an. Schenkungen wie die Schletters markieren den Übergang vom privaten zum öffentlichen Geschmack. Das Museum ist der Umschlagplatz dieser Transformation.
Freilich könnte der Unterschied zwischen den Sammlern heute und den Sammlern damals nicht größer sein. Während Schletter und andere Bürger, die bereits 1837 einen Kunstverein Leipziger Bürger auf Aktienbasis gegründet hatten, ihre Werke allmählich dem Museum vermachten, parken großbürgerliche Sammler ihre Schätze heute im Museum meist eher auf Zeit. Noch hat Friedrich Christian Flick nicht zu erkennen gegeben, dass er auch nur ein einziges seiner Werke in Berlin belassen wird. Oder dass er die Attraktivität, die seine Sammlung für die Berliner Kulturpolitik ganz offenbar hat, dazu nützte, dem Hamburger Bahnhof den finanziellen und kuratorischen Spielraum so zu erweitern, dass aus ihm endlich das "Museum der Gegenwart" würde, das es nur behauptet zu sein. Ein echter Mäzen wie Adolf Heinrich Schletter ist Friedrich Christian Flick also noch nicht. Und als "Wohlthätergalerie", wie die Leipziger früher die geschlossenen Schenkungspräsentationen nannten, werden die Rieck-Hallen erst dann in die Berliner Museumsgeschichte eingehen, wenn sie ihm dauerhaft angeschlossen blieben.
Akzeptiert man einmal das Museum als Amalgam von, als Nahtstelle zwischen Zivilgesellschaft und Staat, dann ist es nur folgerichtig, dass man sich in Leipzig bei der Neupräsentation seiner Bestände nicht allzusehr in kunstgeschichtlichem Purismus geübt hat. Obwohl es von außen kaum puristischer geht. Die die Berliner Architekten Hufnagel, Pütz und Rafaelian haben auf dem Sachsenplatz mit einem gläsernen Kubus, zwischen dem Neuen Rathaus und dem Hauptbahnhof, mitten in der Stadt also, eine der letzten Weltkriegsbrachen gefüllt. Doch dieser wuchtige funktionalistische Block beherbergt keinen unantastbaren Kanon, der dem bürgerlichen Publikum belehrsam gegenübertritt.
Das wäre in Leipzig schon deshalb nicht möglich, weil die Lücken, die der Kahlschlag namens "Entartete Kunst" Ende der dreißiger Jahre im Sammlungsbestand hinterlassen hat, nicht mehr auszugleichen sind. Knapp 400 Werke wurden beschlagnahmt. Und bei dem Angriff der alliierten Bomber auf Leipzig am 4. Dezember 1943 wurden über 100 Werke des Museums zerstört. Nur mit Mühe gelang es beispielsweise, Otto Müllers Liebespaar zurückzukaufen. Schätze wie Pinturicchios Fresko Erzengel Michael im Harnisch bleiben für immer zerstört. Und auch der Beckmann-Saal ist nur ein schwacher Abglanz der früheren Bestände.
Der Neubau mit seinen glasummantelten Blöcken aus Gussbeton ist eine Mischung aus Hochregal und Hochamt, steht wie ein säkularer Altar ohne jeden Zierrat zwischen sozialistischer Platte und alten Leipziger Bürgerhäusern. Doch trotz seiner sakralen Anlage, auf der man zu Galerien und Hochebenen aufsteigt, so weit entfernt ist er doch von dem Gehäuse einer Kunstreligion, dem die kunstsinnigen Leipziger Bürger in seinem Vorgängerbau, einer Art römischem Stadtpalast, vor gut 150 Jahren huldigten.
Eine raffinierte Entreefolge schleust den Besucher, ähnlich wie das Passagensystem der Handelshäuser der Leipziger Innenstadt in das Haus. Zwar schreitet man in ihrem asketischen Nachfolger und Widerpart auch die klassischen Abteilungen mit deutscher, niederländischer, italienischer und französischer Malerei, vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart auf. Es geht schon aufwärts. Freilich lässt sich überall der Utopieverlust erspüren, der die Kunst auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert begleitet.
Den Sammlungsbeginn leitet noch das stürmische Pathos des Fin de Siècle ein: In einem eigenen Raum thront Max Klingers Beethoven-Staue von 1902. Der schwülstige Materialmix aus Marmor, Granit und Bronze steht als grandiose Vorform von Klingers Idee des gesellschaftsformenden Gesamt-"Kunstwerks der Zukunft". Doch bei dem 1962 geborenen Leipziger Maler Daniel Richter reimt sich unsere Zeit nur noch auf Fun de Siecle. In dem Bild von 2002 steht eine amorphe Gruppe haltloser Schemen trancehaft in einer diffusen Partyzone, einem Gelände zwischen Swingerclub und Schülerlandheim. Dieser neue Leipziger Maler-Star gehört freilich nicht zum Bestand des Hauses sondern hängt im Obergeschoss als Galerieleihgabe. Zusammen mit dem neuesten Leipziger Halbgott namens Neo Rauch. Dass in diesem Heldensaal zwei Vertreter der jüngsten "Leipziger Schule" zu den Kronen zeitgenössischer Kunstschöpfung gemacht werden, ist zwar sehr lokalpatriotisch, kunsthistorisch aber doch etwas eng gedacht. So kann man das Museum auch zum Durchlauferhitzer des Marktes machen.
Aus der Not der geschrumpften Bestände hat man in Leipzig insgesamt aber eine nachahmenswerte Tugend gemacht. Andere Städte wie Frankfurt am Main mit dem Städel und dem Museum für Moderne Kunst (MMK) zementieren den Bruch zwischen Klassik und Moderne. In Leipzig hält Direktor Hans-Werner Schmidt mit subtiler Ironie und diskreten Kontrapunkten das Erbe frisch. In seiner Hängung kommentieren sich Alte und Neue Meister gegenseitig. Die Jedermanns und Jedefraus, die der 1957 geborene Stephan Balkenhol in Holz geschnitzt hat, sorgen am Beginn der Galerie der Italiener des 18. Jahrhunderts mit ihren vielen Porträts für historischen Kontrast. Durch dieses ungewohnte Gegenüber angeregt, beginnt man plötzlich Gemälde, die man sonst als kostbare Ladenhüter abgeschritten hätte, anders zu lesen. Wie soll man die ironische Selbstreflexion in Jan van Wijckersloots geheimnisvollem Selbstbildnis von 1669 anders verstehen denn als Vorwegnahme der Postmoderne? In der einen Hand hält der Meister einen Papierstreifen, auf dem ein in seine Einzelteile zerlegtes Gesicht gemalt ist. Am Rande blickt der mit einer Narrenkappe bekleidete Künstler auf eine Staffelei und erblickt - ein Schaf. Und was aus dem Arkadien der Natur geworden ist, das die Spätromantiker verklärten, kann man an den Leuchtkästen des 1962 geborenen Olaf Nicolai im Treppenhaus sehen. Die Farne und Blätter, die man auf der Folge Nach der Natur sehen kann, sind nur noch ein digitalisiertes Abstraktum.
Das Museum der bildenden Künste ist heute, wie es in den Prospekten heißt, "eine Einrichtung der Stadt Leipzig". Das zeitgenössische bürgerliche Kunstengagement in Leipzig verteilt sich heute auf mehr als ein Kunstmuseum. Und um den kulturellen Führungsanspruch muss das Bürgertum - nicht nur in dieser Stadt - mit der Subkultur und der Unterhaltungsindustrie ringen. Es wirft vielleicht ein Schlaglicht auf seinen Geschmackswandel, dass das Ehepaar Bühler-Brockhaus dem Museum zur Neueröffnung 41 Werke von Vertretern der Schule von Barbizon stiftete, jenen weltflüchtigen Vorläufern des Impressionismus, die ihr Heil in der Natur suchten. 1837 gehörte dagegen zu den ersten Erwerbungen des Kunstvereins im sächsischen Vormärz noch in einem Akt von Stiftermut Wilhelm Joseph Heines Bild Gottesdienst in der Zuchthauskirche von 1837. Doch selbst anhand der bezaubernden Klassiker der Vormoderne ließen sich womöglich in der Nachwende-Epoche der "Boomtown" Leipzig nicht nur die bürgerlichen Tugenden von Orientierung und Genuss neu durchbuchstabieren, sondern auch der emanzipatorische Hintergedanke, den 1907 der Kunsthistoriker Hugo Vogel so formulierte: "In dem Sammeltrieb der Leipziger Kunstfreunde liegt ein bedeutsames Kulturmoment, das heilsame Gegengewicht gegen das Überwiegen der materiellen Interessen einer gewaltig aufblühenden Handelsstadt".
Museum der bildenden Künste in Leipzig. Kataloge: Prachtband des Kerber-Verlags, Berlin 2004, 272 S., 32 EUR, Kurzführer des Deutschen Kunstverlags, München 2004, 12,80 EUR
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