Jedes Jahr Ende Juni steht im Foyer des ORF-Theaters in Klagenfurt ein Büchertisch. Früh am Morgen, wenn der Literaturbetrieb, der sich im Kärntner Haus des Österreichischen Rundfunks zum legendären Bachmannwettbewerb trifft, noch den ästhetischen Rausch vom Vorabend ausschläft, steht seine Betreiberin davor und rückt das Tohuwabohu zurecht. Sie türmt die Bücher wieder zu ordentlichen Stapeln, richtet penibel die Kanten aus. Lautlos und im Kleinen macht sie damit vor, was sich eine Stunde später im Sendesaal ein Stockwerk höher oft ziemlich lautstark vollzieht - die Bestimmung der Form.
Im verkaufsfähigen Endzustand fällt Literatur meist rechteckig aus. Ihr im Rohzustand das Geheimnis der Form zu entlocken, fällt dagegen schwerer. "Ich wollte eigentlich die weiße Fahne hissen" entfuhr es Bachmann-Juror Martin Ebel vom Züricher Tages-Anzeiger gleich am ersten Tag des wichtigsten deutschsprachigen Literatur-Wettbewerbs. Der versierte Literaturkritiker streckte die Waffen vor dem Text der deutschen Autorin Andrea Grill. Beim Klagenfurter Wettlesen, dem Kritiker oft vorwerfen, hier fielen nicht literarische Argumente sondern das Fallbeil der Kritiker, verliert selbst der geübteste von ihnen auch schon mal die Übersicht.
An Ebels Orientierungsverlust war freilich die Autorin schuld. Bei Grills Versuch in einem fiktiven Dialog über die Abgründe von Freundschaften ihre Erzähler unkenntlich zu machen, war etwas so schief gegangen, dass statt des beabsichtigten Formexperiments bloß ein schlechter Text herauskam. Traktate wie dieser waren früher häufiger zu hören am Wörthersee. Klagenfurts Odium vom "Nullpunkt der Literatur" stammt von solch zweifelhaften Papieren: pubertär, aber prätentiös, weltvergessen aber selbstbewusst. Doch an Klagenfurt lässt sich auch noch ein anderer "Nullpunkt" studieren.
Für den französischen Literaturwissenschaftler Roland Barthes, so schrieb er es in seiner berühmten Aufsatzsammlung vom Nullpunkt der Literatur, ist spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die literarische Welt nicht mehr in Ordnung. Die Industrialisierung hat für Barthes die organische Verbindung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Literatur aufgesprengt. Seitdem stehen die ästhetischen Formen zwar zur freien Verfügung, die aber nicht frei genug ist, um sie von ihrem geschichtlichen Gedächtnis zu befreien. Um die "weite Neuartigkeit der gegenwärtigen Welt" zu beschreiben, schrieb Barthes, verfüge der Schriftsteller nur über eine "glänzende, jedoch tote Sprache", ein "dekoratives und kompromittierendes Instrument", die "aus dem Grunde einer fremden Vergangenheit aufsteigen und ihm Literatur aufzwingen als ein Ritual".
Was Barthes die "Tragik der Literatur" nennt, ficht die junge Literatur selten an. Fröhlich spielt sie auf der Klaviatur von Roman, Novelle, Kurzgeschichte und Erzählung, als könne ihr das historische Erbe nichts anhaben. Und die Jury spielt Punktrichter bei diesem Ritual der Neugeburt des Alten. Nur die mit Abstand belebendste Neubesetzung in der Jury, der Schweizer Semiotiker André Vladimir Heiz, ein bizarrer Paradiesvogel aus dem Grenzgebiet zwischen Philosophie und Literatur, fragte einmal laut und irritiert, warum sich die junge Literatur so von den alten Formen "domestizieren" lasse. Die Jury-Kollegen hörten die Frage und schwiegen.
Auch in diesem Jahr zeigte sich, dass man die alten Schläuche immer noch mit neuen Inhalten füllen kann: Der Berliner Autor und Musiker Jan Böttcher belebte in einem ordentlichen Text in der Tradition des psychologischen Erzählens das altbewährte Verfahren, Zeitgeschichte in Familiengeschichte zu verpacken. In Fremdwärts erzählt er eine deutsche Dreigenerationengeschichte im Zonenrandgebiet an der Elbe. Und siehe: Sensibel und konventionell reicht - für Böttcher winkte am Schluss der vierte von fünf Klagenfurter Auszeichnungen, der Ernst-Willner-Preis.
Auf eine unerreichte Spitze trieb die Beherrschung der alten Form der Berliner Autor Lutz Seiler. Der 1964 geborene Dichter aus Berlin, vielfach ausgezeichnet und bewundert für seine (Natur-)Lyrik in der Nachfolge Peter Huchels, faszinierte Jury und Publikum in Klagenfurt mit einem suggestiven Text. In seiner Erzählung Turksib verwandelt sich eine Eisenbahn auf der Fahrt durch Kasachstan plötzlich in einen unendlichen Zeitschacht. Seiler gelang das Kunststück, die wolfganghilbigverdächtige Materialität seines Stoffs langsam aber unmerklich ins Absurde, und damit ins Immaterielle zu kippen. Ein Glanzstück poetischer Prosa, für das der erste, der Ingeborg-Bachmann-Preis die angemessene Belohung war. Doch letztlich siegte auch mit Seiler die Klassik, die (virtuos gehandhabte) Konvention.
Viel schwerer haben es in Klagenfurt diejenigen, die Anlauf nehmen zu neuen Formen. Die Jury, zum letzten Mal unter dem Vorsitz der ebenso temperamentvollen wie launischen Zeit-Kritikerin Iris Radisch zeigte zwar ein, im Vergleich zu den Vorjahren leicht gesteigertes, aber noch immer hasenfüßiges Interesse an schrägen Texten. Sie schmunzelte über die funkelnden Paradoxa des Schweizers Dieter Zwicky. "Die vierkernige Aosta-Quitte ist darum wahrscheinlich die verschonteste überhaupt" lautet eine der erratischen Sentenzen in seinem knarzigen Prosastück Mein afrikanisches Jubeljahr, deren Schönheit auf überelaborierter Sinnlosigkeit beruht. Als es ans Prämieren ging, schaffte es der Schweizer dann aber doch nicht mehr auf die Shortlist.
Mit den Worten "Ökonomisch, funktional, kompakt" brachte die sonst so moderne Jurorin Ursula März aus Berlin das Klagenfurter Credo auf den Punkt. Sie zog eine unauffällige Kurzgeschichte der Frankfurter Nachwuchshoffnung Silke Scheuermann dem großartigen Text Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends des Musikers und Autors Peter Licht vor, einem neuen Helden des genreübergreifenden Pop. Einen ambitionierten Versuch des 1981 geborenen Berliner Autors Jörg Albrecht, den virtuellen Fetzen, in die sich unsere Alltagswahrnehmung auflöst, sprachlich eine Form zu geben, ein brillant gearbeiteter Text zwischen Gertrude Stein und Tocotronic, missverstand März gar grob fahrlässig als "Weißes Rauschen pur". Und als der Wiener Autor Thomas Stangl seinen Text vortrug, kam ein anderer Neuzugang ins Schleudern, der die Jury bis dahin mit Eloquenz und Intelligenz bereichert hatte. Ihm fehle das "sinnhafte Koordinatensystem" wand sich die 36 Jahre junge Ijoma Mangold von der Süddeutschen Zeitung, unbehaglich und befand: "Deshalb ist der Text für mich nicht geglückt".
Immerhin schafften es Stangl dann mit dem Preis der Telekom auf den zweiten und Peter Licht doch noch auf den dritten Platz, der auf den Namen Drei-Sat-Preis hört. Zwei Texte, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Während bei Stangl ein namenloses Ich einen depressionsgeladenen Spaziergang durch Wien unternimmt, hört Lichts Erzähler auf seinem imaginären Prekariatssofa gar nicht auf, fröhlich von der drohenden Apokalypse zu quasseln, bis sich plötzlich ein riesiges Loch in seiner Bude auftut: "Ich fühlte mich wie ein Käfer in einer Badewanne, der dem Abguß entgegenstrebt" - Kafka meets Pop.
Natürlich liebäugelt Licht mit der Pointe und Stangl steuert das oft richtungslos mäandernde seines All-Over-Textes aus dem Off. Doch mit ihrer kalkulierten Formlosigkeit, halb loses Sprechen, halb Bewusstseinsstrom, waren sie eine wohltuende Herausforderung für die Freunde des handlichen Stück Literatur, das man in Klagenfurt sonst so liebt. Und kommen einer Welt ohne verbindliche Formen womöglich näher als die Adepten des Klassischen. Wenn Modernität wirklich "mit der Suche nach der unmöglichen Literatur" beginnt, wie Barthes sagt, dann waren Thomas Stangl und Peter Licht ganz nah dran an diesem Mysterium im sonnigen Klagenfurt des Jahres 2007.
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