Aus der Finsternis

Hühnerkäfig "Der weiße Tiger" - den Debütroman des indischen Autors Aravind Adiga - kann man als Manifest der Dritten gegen die Erste Welt lesen

Sari, Taj Mahal und Poona. Glaubt irgendjemand noch an das Indien der verstaubten Klischees? Seit dem Chemie-Unglück von Bhopal 1984 ist Indien zu einem Symbol für die Biokatastrophe schlechthin geworden. Seit dem Streit um die Greencard für indische Computerspezialisten ist es ein Synonym für High-Tech. Und wenn es nach den Anschlägen auf die Vorortzüge in Mumbai vor zwei Jahren eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass Indien eine Massengesellschaft in der Globalisierung geworden ist, dann haben sie die jetzigen Anschläge in Mumbai geliefert.

Muss man also ein Buch schreiben, noch dazu einen Roman, um zu beweisen, dass Indien "ein gefährliches Land" geworden ist? Aravind Adiga, von dem diese Charakterisierung stammt, glaubt es ganz offenbar. Der 1974 in Madras geborene Autor hat für seine Beweisführung, die jetzt unter dem Titel Der weiße Tiger erschienen ist, prompt den diesjährigen Booker-Prize gewonnen, Englands (!) renommiertesten Buchpreis. Seither tobt zwischen London und Neu Delhi ein erbitterter Kampf um die Aufgaben von Literatur.

Die Rezensenten von Adigas Roman wurden nicht müde, die Geschichte des Aufsteigers Balram Halwai, der sich am Schopf aus dem Sumpf des indischen Kastenwesens zieht, als überfällige Absage an das verklärte Bild von Bollywood-Indien zu feiern. Adiga, ein Kind der indischen Mittelschicht, der in Australien aufwuchs und in New York und Oxford Literatur studierte, befeuerte dieses Missverständnis nach Kräften. In Interviews verwies der junge Debütant bescheiden auf Flaubert, Balzac und Dickens, und erklärte es zur Aufgabe der Literatur, die sozialen Realitäten zu zeigen, die in der Politik nicht zur Sprache kämen.

Hätte er sein Buch gelesen, wäre ihm aufgefallen, dass Der weiße Tiger wenig von dem Realismus seiner Vorbilder hat. Obwohl wir darin den Gestank verwesenden Fleisches zu riechen meinen, wenn Balrams Mutter im schwarzen Schlamm des heiligen Ganges zwischen Müllresten und toten Kadavern verbrannt wird. Oder Adiga an einer Sickergrube in Neu-Delhi stehen sehen, wo sich die Bewohner der Randgebiete auf offener Straße ihrer Notdurft entledigen. Adiga ist auch kein indischer Egon Erwin Kisch oder Günter Wallraff. Selbst wenn wir die Kakerlaken förmlich von der Decke jenes Kellers in Neu-Delhi fallen zu sehen meinen, in dem Balram vegetiert, während der Kohleunternehmer Ashok, bei dem er als Fahrer untergekommen ist, in der Hauptstadt dunklen Geschäften nachgeht. Adiga begeistert vor allem durch den düsteren Sarkasmus, in dem er Balram von seinen Aufstieg aus der Finsternis des ländlichen Indiens zu einer "Säule der Gesellschaft" in der Metropole Bangalore schildern lässt. Und die indische Demokratie als großen "Hühnerkäfig" verlacht, in dem sich die allzeit servilen Armen praktischwerweise selbst bewachen. Am Ende entlässt er den Leser mit einer klammheimlichen Sympathie für einen Mann, der schließlich zum Mörder wird.

Wer Indien immer noch durch Fritz Langs cineastische Kitschbrille Der Tiger von Eschnapur von 1959 betrachtet, wird sich vor dem Indien, durch das der weiße Tiger Balram am Ende des Jahrtausends streift, womöglich gruseln. Ganz neu ist Adigas Kritik nicht. Schon in seinem Roman Zunge zeigen war Günter Grass 1988, nachdem er ein paar Jahre demonstrativ nach Indien gezogen war, hart mit der dortigen Mittelschicht ins Gericht gegangen: Sie ignoriere das Leid und das Elend vor ihrer Haustür. Geholfen hat die Kritik nicht viel. Adiga hat eigentlich nur noch einmal nachgelegt. Freilich aus einer Perspektive von innen. In seiner Heimat gilt er nun als Nestbeschmutzer.

Michael Portillo jedenfalls, der britische Tory-Politiker und Vorsitzende der Booker-Jury, die Adiga über Nacht zum literarischen Shooting-Star befördert hat, war ehrlich erschrocken nach der Lektüre des Buches und stammelte etwas von der "dunklen Seite Indiens". Darin mag man das schlechte Gewissen der einstigen Kolonialmacht erkennen, die entsetzt auf ihre missratene Hinterlassenschaft blickt. Geschrieben ist das Buch aber aus einer postkolonialistischen Perspektive.

Halwai schiebt die Schuld an dem Perpetuum Mobile aus Unterdrückung, Korruption und Gewalt nämlich nicht den ehemaligen Kolonialherren in die Schuhe. Sondern lässt kein gutes Haar an den korrupten Eliten. Der Leser empfindet es nur als konsequent, dass Balram seinem - gar nicht unsympathischen - Mr. Ashok eines Tages eine zerborstene Whiskeyflasche in den Schädel rammt, dessen rote Tasche mit dem Bestechungsgeld ergreift, sich nach Bangalore absetzt und Kleinunternehmer wird.

Die unterschwellige Beunruhigung, die von Der weiße Tiger ausgeht, rührt aber weniger von der sozialen Misere, die Adiga darin so plastisch beschreibt, sondern von der politischen Eruption, die er darin ankündigen möchte. Geschrieben ist das Buch nämlich in Form von sieben Briefen, die sein Held an den chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao schreibt, als dieser zu einem Besuch in die Wirtschaftsmetropole kommt. In dem Protagonisten des sozialistischen Kapitalismus sieht er einen natürlichen Verbündeten und schildert ihm freimütig seinen Weg nach oben: "Sie müssen wissen, ich war auch einmal Diener".

Halwai ruft nicht zur Revolution in seinem Land auf. Die Hoffnung hat er längst aufgegeben in einem Land, wo die Entrechteten am liebsten vor dem Fernseher sitzen und sich von Cricket und Shampoowerbung berieseln lassen. Er appelliert auch nicht an das soziale Gewissen der ersten, sondern an die Kameraderie der Emporkömmlinge der Dritten Welt, die - wie Balram - notfalls über Leichen gehen. Jiabao schärft er ein, dass "die Weißen ein Auslaufmodell" sind, die noch zu seinen Lebzeiten zu Grunde gehen würden: "Meine bescheidene Prognose: In zwanzig Jahren gibt es bloß noch uns Gelbe und Braune an der Spitze der Pyramide, und wir werden die Welt beherrschen". Es ist ine Art indische Version von Samuel Huntingtons "clash of civilizations", die Balram Halwai da formuliert."Niemals können wir, gealterte Söhne des Westens, zu Urmenschentum und Paradiesunschuld der primitiven Völker zurückkehren, wohl aber winkt uns Heimkehr und fruchtbare Erneuerung bei jenem Geist des Ostens, der von Lao-tse bis zu Jesus führt." So schwülstig pries Hermann Hesse 1917 das Geistesreich, von dem er sich die spirituelle Erneuerung des Westens erhoffte. Soll man es nun zufrieden sein, , dass rund neunzig Jahre später ein indischer Romanheld diese romantische Projektion auf den Misthaufen der Literaturgeschichte kehrt, über Poona-Touristen herzieht und Yoga als Mentaltraining für Unternehmer preist, die im Konkurrenzkampf überleben wollen?

Aravind Adiga Der weiße Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Beck, München 2008, 312 S., 19,90 EUR

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