Brüder

Zweigeteilte Welt In Michael Roes´ neuem Roman "David Kanchelli" wird auf dem Feld der neuen politischen Literatur mit alten Problemen gekämpft

Die Union steht für Freiheit, ja. Und wir verteidigen diese Freiheit hier und überall auf der Welt. Allein der Glaube begrenzt unsere Freiheit. Diese Grenzen aber sind heilige, unantastbare Grenzen." Klar, dass, wer sich an solchen Grenzen vergeht, mit tödlichen Konsequenzen rechnen muss. Nicht nur wegen des Angriffs auf die heiligen Grenzen einer großen Macht kommt einem Michael Roes´ neuer Roman David Kanchelli wie eine Parabel auf und eine Extrapolation der gegenwärtigen Weltlage vor. Die Welt des Jahres 2023 ist geteilt in Gut und Böse. Auf der einen Seite steht die Union. Ein puritanischer Gottesstaat, deren Hauptstadt Corpus Christi heißt. Eine Art Zukunftsentwurf des christlichen Fundamentalismus mit Glaubenszwang und Arbeitspflicht. In dem der charismatische Führer einer religiösen Bewegung, der "Große Versöhner", die "Große Umkehr zum Glauben" durchgesetzt hat. "Das Nachdenken an sich ist bereits die größte Häresie", dekretierte dieser ermordete Prophet, "selbst wenn es im Ergebnis den Glauben bekräftigt". Ein Gebilde mit allen Insignien des Überwachungsstaates. Auf der anderen Seite gibt es die Territorien. Da darben die Menschen in Lehmbauten. Ein Reservat des Hasses, der Un-Zivilisiertheit, aber auch der Ursprünglichkeit. Die Mischung aus Machtpolitik und religiösem Wahn, unter der sich die Welt derzeit neu formiert, ist unübersehbar. Doch die Warnung vor dieser Welt der Zukunft ist auch sehr, sehr unübersehbar in diesem Buch.

Das Eigene und das Fremde. Das Eigene ist das Fremde. Diese Vokabeln sind mittlerweile zu einer multikulturellen Standardformel vernutzt. Wie kann man noch darstellen, wie das zusammenhängt, ohne dass es menschelt, tümelt, moralt? Michael Roes hat es mit einem utopischen Roman versucht, weil dieses Genre Konturen erlaubt, die ihm im literarischen Normalfall als Überzeichnung angekreidet worden wären. Postmoderne Spielereien um ihrer selbst willen liegen Roes allerdings fern. Er hat diese Fiktion par excellence sozusagen geerdet, indem er sie um den Wiedergänger einer historischen Gestalt angelegt hat. David Kanchelli (Bild) ist das Synonym für den britischen Diplomaten Roger David Casement. Der 1864 geborene Mann vertrat Großbritannien im damals portugiesischen Mocambique, in Angola, im Kongo und Brasilien. Casement wurde berühmt, weil er erstmals offiziell die Ausbeutung eingeborener Landarbeiter im belgischen Kongo beim Gummiabbau und in Peru durch die United Fruit Company offenlegte. Das englische Königshaus adelte ihn deswegen. Im August 1916 ließ es ihn jedoch hängen. Weil er den irischen Freiheitskampf unterstützte und dafür im Ersten Weltkrieg zeitweilig sogar mit den Deutschen kollaborierte. Der Prozess gegen Casement war überschattet von der zielgerichteten Veröffentlichung seiner Tagebücher, der "Black Diaries" und der "White Diaries", in denen er seine, für die damalige Zeit skandalösen, homosexuellen Obsessionen offenbart hatte. Casement war angetan von der Erotik farbiger junger Männer. Seiner Bekanntheit tat der Skandal dennoch keinen Abbruch. In Irland wird er noch heute als Märtyrer verehrt.

Auch David Kanchelli ist Diplomat. Der begabteste der Union und zugleich Bruder ihres Präsidenten Ephraim Kanchelli. Er bekommt den Auftrag, in die Territorien zu reisen. Dort soll er die Arbeits- und Lebensumstände der Menschen untersuchen, wo die Union nach Bauxit schürft. Der skrupulöse Karrierist findet auf der gefährlichen Mission heraus, dass Waffenhandel, Landraub, Zwangsarbeit und Folter in dem Songhai genannten Land an der Tagesordnung sind. Und die wichtigsten Funktionäre der Union bereichern sich persönlich an den Geschäften. Der Reichtum der einen Welt beruht auf der Ausbeutung der anderen. Ihr Frieden beruht auf Gewalt. Ihre Moral steht auf einem moralischen Abgrund. Für einen ersten Bericht wird Kanchelli noch ausgezeichnet. Der Bericht verschwindet freilich folgenlos in den Archiven. David schlägt sich auf die Seite der Rebellen. Doch ein Aufstand scheitert. Als Angeklagter kehrt er zurück. Im Hochverratsprozess, den ihm die Union macht, klagt ihn ein Generalstaatsanwalt an, der selbst einst für die Unabhängigkeit der Territorien kämpfte. David und sein Bruder Ephraim stammen von dort. In den Traumreisen ihrer Kindheit, mit Hilfe der Sammelbänder mit Zigarettenbildchen ihres Großvaters durchquerten sie immer wieder das andere Land. Die Grenze verläuft nicht zwischen den Welten, sondern geht mitten durch sie.

Michael Roes ist ein Konvertit. Der 1960 am Niederrhein geborene Schriftsteller ist Doktor der Philosophie. Spätestens in Leeres Viertel - Rub al Khali, dem Roman mit dem ihm der Durchbruch in Deutschland gelang, erkannte man als Motiv für seinen Wechsel zur Kunst die Suche nach einer Synthese von rationaler und poetischer Erkenntnis und den Versuch, Wissenschaft und Literatur zu verweben. Der Grenzgänger Roes will immer noch ein paar Intensitätsgrade überspringen. Wenn David nach tagelanger Verfolgungsjagd durch die vegetationslose Savanne die Zunge wie ein Knebel im Mund hängt, er von Würgereiz und Bauchkrämpfen geschüttelt im glasscharfen Geröll kniet und die Unionsfreischärler die Hände der eliminierten Rebellen aus den Territorien über dem Lagerfeuer schmoren, kommt Roes dem Körper und dem Schmerz nahe wie kein Anderer. Doch immer steht noch ein Gerüst dazwischen. Das System aus Erinnerungen, Aufzeichnungen oder innerem Monolog und wechselnden Erzählerstimmen, mit dem er schon in seinen vorangegangenen Büchern die Handlung entfaltete, zeigt Roes als virtuosen Konstruktivisten. Bei aller Suche nach sinnlicher Unmittelbarkeit misstraut er doch der naiven Anschauung. Was der Leser über die Personen und ihre Erlebnisse erfahren, ist immer vermittelt, gespiegelt. Den auktorialen Erzähler schaltet Roes konsequent aus. Das Innenleben seines Bruders David erfährt Ephraim nur über dessen Tagebücher, Beweismittel im Prozess und die Protokolle der Gerichtsverhandlung. Was ist der Mensch? Ein Vexierbild. Zusammengesetzt von anderen.

In Roes Roman bleibt die Homoerotik subtil. Die "pornographischen Details", Davids "Wunsch nach Unterwerfung" und "weibliche Haltung" beim Geschlechtsakt, die ihm - wie bei seinem historischen Vorbild Casement - in dem Hochverratsprozess als Verrat an der Würde des Mannes vorgehalten werden, sind nur angedeutet. In den kurzen Momenten von plötzlicher körperlicher Nähe. Wenn er den Atem eines vor ihm stehenden Mannes spürt. Oder wenn Kanchelli in sein Tagebuch schreibt, wie er am Badeplatz der jungen Männer in den Territorien sitzt und sich wünscht, nackt zwischen ihnen schwimmen zu können: "frei nun, berührbar, angerührt". Die Überlast an kulturwissenschaftlichen Theorien, mit denen Roes seine Erzählarchive schon in Rub al Khali und Der Coup der Berdache immer wieder überfrachtet hatte, hat er diesmal auf ein Minimum zurückgeschraubt. Dafür ist diesmal die Moral eingesprungen. Das klassische Problem der politischen Literatur. David Kanchellis Verteidigerin legt Roes die "Fähigkeit zum Mitleiden" in den Mund. "Solidarität und Ironie" gehören zusammen, hat Michael Roes kürzlich im Freitag-Interview gesagt. Die Botschaft hört man gern. Roes lässt seinen Helden auch gegen die freudlose Moralideologie der Union polemisieren. Doch viel zu lachen hat man bei der Lektüre von David Kanchelli auch nicht. Wenn es nach den Anschlägen in New York womöglich einen Paradigmenwechsel zu einer Literatur der neuen Verantwortung oder des politischen Engagements geben sollte, wird sie mehr Ironie brauchen als dieser Roman, damit sie bei den Lesern dauerhaft auf Gegenliebe stößt.

Ironie hat die Union natürlich nicht. In einer Welt der unerbittlichen Gegensätze kommt alles, wie es kommen muss. David Kanchelli wird zum Tod verurteilt. Sein Schicksal bleibt jedoch offen. Als Staatschef bleibt sein Bruder die letzte Instanz. Kühl verteidigt er die Staatsräson gegen alle Gnadengesuche, sogar gegen die eigene Mutter. Und doch merkt man, wie ihn die Lektüre der Tagebücher und Protokolle in der Nacht vor der Hinrichtung, in der er seine Entscheidung treffen muss, beunruhigt. Der asketische Bürokrat Ephraim, ein namenloser Funktionär der Bewegung des Großen Versöhners, mit einem Hang zur Belehrung kam durch einen Zufall an die Macht. Während er Davids Tagebücher liest, quellen die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit auf. Die Spiele der unterschiedlichen Brüder, die zerstrittenen Eltern, die Enge des Elternhauses. Heimlich lässt sich der Präsident sogar in das gemeinsame Elternhaus in den Territorien fahren. Auf dieser Reise in die Vergangenheit zeigt sich, dass, so wie die Union und die Territorien sich gegenseitig bedingen, der phantasielose, asexuelle Ephraim nur das Pendant zu seinem eigenwilligen, phantasievollen, genussoffenen, androgynen Bruder mit dem Hang zum Besonderen ist - sein Spiegelbild.

An moralischer Politik mangelt es immer. Die Beschäftigung mit der faszinierenden Figur des Roger David Casement, dem T.E. Lawrence den "appeal of a broken archangel" zuschrieb, liegt daher nahe. Roes wollte es aber nicht dabei belassen, mit dem vergessenen Mann, für dessen Begnadigung sich selbst Sir Arthur Conan Doyle vergeblich einsetzte, eine Alternative zum klassischen männlichen Machtpolitiker zu rehabilitieren. Sondern musste ihn unbedingt noch für die Kritik der Politik der Gegenwart instrumentalisieren. Und für eine Abrechnung mit dem Brutkasten des Kleinbürgertums. Nicht nur deswegen wirkt die Figur des Präsidenten - bis hin zu seinen unterdrückten homosexuellen Neigungen - so künstlich. So unkonventionell Roes erzählt, so komplex er seine Themen anlegt, so steif konstruiert er. Doch trotz des schweren Ernstes und der wie mit dem Lineal gezogenen Dichotomie bleibt eine Spannung in seinem an sich sympathischen Memorial für den moralisch sensiblen Außenseiter: Egal, welche Entscheidung Präsident Ephraim Kanchelli treffen wird, er entscheidet damit auch über sich selbst.

Michael Roes: David Kanchelli. Roman. Berlin-Verlag, Berlin 2001, 334 S., 39,80 DM

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