Im Dezember 1989, zu der Zeit, als in Europa alles vom Fall der Berliner Mauer gebannt war, wurde auf der anderen Seite des Globus, an Bord einer Maschine der Royal Australian Air Force über der Timor-See von den Außenministern Australiens und Indonesiens ein Vertrag unterzeichnet. Mit dem Abkommen wollten die beiden Staaten die sogenannte »Timor-Lücke« schließen. Damit war keine Menschenrechtslücke gemeint, sondern die Erforschung und Ausbeutung der Erdölvorkommen vor der indonesischen Küste. Eine Lücke tat sich deshalb auf, weil diese Vorkommen bis weit nach Osten, nach Ost-Timor reichten. Geschlossen werden konnte die Lücke, weil sich Australien, das Land, das im September 1999 mit geschwellter Moralbrust die bewaffnete UN-Mission zur Rettung Ost-Timors vor den indonesischen Milizen anführen sollte, noch 1975 die indonesische Besetzung Ost-Timors großzügig anerkannt hatte. Präsidenten-General Suharto hatte die günstige Gelegenheit genutzt. Mit der Nelkenrevolution in Lissabon war die Kolonialmacht Portugal zusammengebrochen. Der Vertrag in der Luft von 1989 sollte diese Kollaboration zu Lasten der ansonsten armen Ex-Provinz endgültig besiegeln.
In einem Flugzeug. Symbolischer hätte der - sprichwörtliche - Versuch, über die Köpfe der Menschen eines Landes hinweg die strategischen Interessen der Großmächte zu sichern, nicht ausfallen können. Auch für die USA galt Ost-Timor von den Präsidenten Johnson bis Clinton als »Verkehrshindernis« auf der Straße zum Bündnis mit dem rohstoffreichen 200-Millionen-Land Indonesien. Deshalb konnte die vom Westen gehätschelte südostasiatische Diktatur ihre Gräueltaten in Ost-Timor stets mit amerikanischen Waffen und Militärhelfern ins Werk setzen.
Vom »Fett der Erde« hatten die paar hunderttausend Bewohner des Fleckens am Ende der Welt, mit 15.000 Quadratkilometern kaum größer als Sachsen, nichts. So nennt der 1958 im osttimoresischen Cailaco geborene Schriftsteller und Lehrer Luis Cardoso das Objekt der Begierde von Ost-Timors mächtigen Nachbarn. Ernährt haben sie sich eher fettarm. In der katholischen Missionsschule von Soibada, in dem Cardoso seine Ausbildung begann, gab es Mais, Manniok und Ratten zu essen. Auch die Exotik hält sich in Grenzen. Im Hafen von Dili, einer Stadt wie Weimar, rosten vor dem Denkmal der mittelalterlichen Entdecker die Kanonen. Die Kisten, die dort verladen werden, duften schon mal nach Sandelholz. Doch die Küste herauf in den Norden ist trocken, gesäumt von ein paar Eukalyptusbäumen, Akazien und Reisfeldern.
In Cardosos erstem Buch Chronik einer Überfahrt, dem ersten hierzulande erschienenen Roman aus Ost-Timor, schaut man nicht mehr aus der strategischen Vogelperspektive sondern vom Boden des Alltags. Der Roman beginnt mit einer Bootsreise. Der Vater des Erzählers, staatlicher Krankenpfleger, wird von den feuchten Bambushainen Samoros auf die Sterbeinsel Ataúro versetzt. Ängstlich registriert sein kleiner Sohn den ungewohnten Ortswechsel. Am Ende leben beide in Lissabon. Der stets regimetreue Vater Cardosos hat das Gedächtnis verloren. In der Hauptstadt der Kolonialmacht irrt er durch die Straßen und hofft auf Heilung. Sein Sohn ist vor Suhartos Mördern geflohen.
Identitätsreisen und Migrantenschicksal - Ost-Timor erscheint in Cardosos Roman wie eine Versuchsstation für die Hybridisierung der Welt, von der der karibische Autor Edouard Glissant spricht. Eine Kreuzung der Kulturen. In dieser Endstation der Ausgestoßenen am äußersten Rand des Imperiums lässt Portugal den »Tag der Rasse« feiern. Doch hier lebt ein buntes Konglomerat. Die Einwanderer aus Portugal nennen die Eingeborenen malaes - hinkende, weiße Ausländer. Meist sind es verbannte Gegner der Salazar-Diktatur, die sich dort eine neue Existenz aufbauen, sich aber »Asien-Portugiesen« nennen, wenn sie nach Portugal zurückkehren. Dann sind da die Chinesen und die Einwanderer aus den portugiesischen Enklaven Mosambik oder Macau. Ihre Nachkommen unterrichten im Priesterseminar portugiesische Doktrin und Grammatik: »Sie verbanden das Wissen der Einheimischen mit lusitanischer Allegorie.«
Diese Ordnung zerfällt allmählich. Die portugiesische Revolution verläuft noch unspektakulär. Erst als die revolutionären Militärs die Bildung politischer Parteien auch in Ost-Timor anordnen, bemerkt der Erzähler die neuen Widersprüche: »Wie war es möglich, dass der Baum Samoro drei so konträre Zweige hervorgebracht hatte?« Die Sprache der Literatur wird zur Kampfsprache der Politik. In Lissabon stößt Cardoso selbst zum Nationalen Widerstandsrat der Maubere, jenem von der Befreiungsbewegung Fretilin erfundenen Symbol des neuen osttimoresischen Menschen nach dem Vorbild der einheimischen Heiden.
Es gehört zu dieser Dialektik der Entkolonialisierung, dass die Kolonialmacht Objekt der Sehnsucht und des Hasses ist. Lissabon ist die »Hauptstadt des Imperiums« aber auch die Inkarnation des Paradieses und der Kultur. Doch als der Exilant dort zum ersten Mal ankommt, ist er enttäuscht. Es ist kalt und neblig. Doch die Stadt bietet ihm Zuflucht.
In seinem Roman steckt Cardoso noch zwischen dem magischen Naturzustand seiner Kindheit und der entzauberten Realität des Erwachsenen. Wenn er von der Stadt Dili mit den blitzenden Zinkdächern erzählt, sieht er sie mal »angeschwollen wie eine Boa nach dem Verschlingen eines Büffels« oder »am frühen Abend schloss sie sich wie eine glänzende Muschel«. Sein Text ist selbst hybride, so wie er ihn mit Tétum-Vokabeln aus der Einheimischen-Sprache durchsetzt. Angefangen hatte diese Geschichte einer Lese- und Phantasieinitiation mit der portugiesischen Sprache im Schein einer Petroleumlampe. Sie öffnet ihm den Weg zur Lektüre der Bibel, von Frantz Fanon und Gorki. Später erfindet er gegen Brot Geschichten.
Der slowenische Philosoph Slavoj Z?iz?ek hat die zwischen Sozialdistanz und Intimterror zerrissene Kultur des Westens als eine »nie dagewesene Verleugnung der Erfahrung des Anderen« bezeichnet. Man kann darüber streiten, ob Z?iz?eks Folgerung, dass die »authentische Arbeit der Liebe nicht darin (besteht), dem anderen zu helfen, indem wir ihm Brocken unseres Wohlstandes über den sicheren Grenzzaun zu werfen, sondern darin, dem ausgeschlossenen leidenden Anderen direkt die Hand zu reichen« nicht zu einem kunstfeindlichen Authentizitätsfetischismus führt. Bestätigt hat sich seine These allerdings, als nicht der Menschenrechtsanführer Australien in diesen Tagen 400 Boots-Flüchtlingen aus Afghanistan die Hand zum Asyl reichen wollte, sondern das zerstörte, inzwischen selbstständige Ost-Timor.
Soll man für dessen Selbstbestimmung als »Nation« kämpfen? Ihre Geburt verdankt sie einem Zufall, nämlich dem kolonialen Agreement Portugals und der Niederlande, die 1895 die Insel Timor in ein West- und ein Ostterritorium teilten. Der Westen reicht seine Hand den Randschauplätzen der von ihm lange beherrschten Geschichte neuerdings gern in Form humanitärer Interventionen. Damit hält er sich das wirkliche Bild des Anderen eher vom Leib. Cardoso reicht sie mit der Kunst. Gerade weil sein Buch keine politische Anklage, sondern eine subjektiv-melancholische Standortbestimmung ist, folgt man ihr neugierig. Trotz magischer Untertöne hat er aber keine grandiose Allegorie à la Garcia Marquez auf die Einsamkeit des timoresischen Volkes geschaffen, sondern mehr einen poetischen Lebensbericht als einen Roman geschrieben - kein spektakuläres Epos und keine Widerstandsaga, sondern den Alltag der Geschlagenen geschildert. Mit Chronik einer Überfahrt hat Cardoso die verlorene Erinnerung seines Vaters wiedergefunden. Ein Bild von innen. Keins von oben. Mit ihm hat er eine andere Timor-Lücke geschlossen.
Luis Cardoso: Chronik einer Überfahrt. Roman. Aus dem Portugiesischen (Timor) von Karin Schweder-Schreiner. Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 176 S., 32,90 DM
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