Was ist der Unterschied zwischen Botho Strauß und Christian Kracht? Strauß kam nur bis in die Uckermark. Kracht immerhin bis Pnom Penh. Getriebene sind sie beide. Den einen trieb der Ekel über den sittenlosen Westen in den geblähten Schwulst. Er kehrte dem Zivilisationsmoloch den Rücken. In der Einöde nördlich von Berlin begnügt er sich mit dem Glanz der Schlehenfrüchte und kämpft mit den Unbilden der Natürlichkeit, zu der er zurückkehren will: Manchmal steht der Keller unter Wasser. Den anderen trieb die hässliche Zivilisation in die geborgte Dekadenz und die polyglotte Exotik. Als Wohnsitz gibt Kracht immer wieder die kambodschanische Hauptstadt an.
Als 1995 Christian Krachts Roman Faserland erschien, war das eine Zäsur. Das Debüt des 1966 geborenen Autors, Sohn eines schwerreichen Schweizer Industriellen, gilt als Beginn der neuen deutschen Pop-Literatur. Der namenlose Ich-Erzähler, der da eine Tour der Desillusionierung von Sylt bis zum Bodensee absolviert, war eine kalkulierte Provokation. Zehn Jahre vor Botho Strauß´ Bannfluch gegen Stadtteilfeste polemisierte hier einer gegen die Durchnittsästhetik der frühen neunziger Jahre mitsamt seinem Inventar: Fußgängerzonen, die fetten Wursthände von Betriebsräten, blöde Hippies. Und führte die gewachste Barbour-Jacke in die Literatur ein. Natürlich musste es jeden aufrechten Sozialdemokraten bis aufs Blut reizen, wenn er sah, wie sich der Autor dieses Neopop-Eichendorff aus der Hölle der political correctness absetzte und anschließend auf der Terrasse des Foreign Correspondents Club in Pnom Penh bei einem Joint Marihuana darüber nachdenkt, dass das Gesicht des verhungernden Bettlers neben dem Bordstein wie eine "Brombeermaske aus eloxiertem Stahl" aussieht. Ernst Jünger lässt grüßen. Gleichwohl frappierte und belustigte, mit welch frecher Schnoddrigkeit dieser Autor im Leben wie in der Literatur die unkorrekte Pose ausreizte.
Krachts neuer Roman 1979 schließt da an, wo Faserland aufhört. Nicht nur, weil er die Obsession mit den Markenartikeln, die er amerikanischen Erzählern wie Bret Easton Ellis abgeschaut hat, fortführt. Das schwule Liebespaar, das da durch die Luxussalons der europäisierten Oberschicht im Iran des Jahres 1979 zieht, delektiert sich an Berluti-Schuhen, Pierre-Cardin-Hemden und Yves-Saint-Laurent-Blazern. Mit dem zynischen, aber hochgebildeten Innenarchitekten Christopher hat der namenlose Ich-Erzähler aus Faserland endlich auch den passenden Begleiter gefunden. Den Roman konnte man nämlich auch als verdeckten coming out-Text lesen. Der nervöse und von innerer Unruhe gepeinigte Erzähler, stets am Rande des Deliriums, mokiert sich noch über die aufdringlichen alten Schwulen am Strand von Mykonos und über Schwuletten-Kellner. Das Ziel seiner Irrfahrt ist jedoch das Grab Thomas Manns in Zürich. Auf das dann ein Hund kackt.
Solche gut sichtbar platzierten Ironiepartikel, die Krachts hart am Rande des schwulen Kitschs balancierenden Bilder schon immer konterte, muss die FAZ übersehen haben. Vom Rauch der New Yorker Twin Towers umnebelt, nahm sie sie für bare Geistesmünze. Krachts neuer Roman wurde sogleich zum Zeugnis des gewaltbereiten "Selbsthass des Westens" erklärt. Ganz aus der Luft gegriffen war der Vorwurf nicht, dass der ästhetische Fundamentalismus der sich hier wieder zelebrierte, an der Grenze zum Terror läge. "Die Langeweile ist der Hauptfeind unserer Generation" hatten die Protagonisten des popkulturellen Quintetts 1999 schließlich in ihrem aufsehenerregenden Manifest Tristesse Royal geseufzt. In den Ledersesseln des Hotels Adlon schauten Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre auf das Brandenburger Tor und litten amüsiert an dem "Fin de siecle einer perfekten Kultur". Das Lamento über die spannungslose Wohlstandverwahrlosung einer Gesellschaft ohne Widerstand und Herausforderung, mutmaßten die heftig angefeindeten Jungschnösel, müsste Leute wie sie eigentlich an die Front treiben.
Ihr puristischster Ästhet Kracht kokettierte bewusst mit dem Bild vom Terror. In seiner Erzählung Der Gesang des Zauberers - wieder eine Hommage an Thomas Mann - in dem 1999 erschienenen Sammelband Mesopotamia besucht sein namenloser Dauererzähler einen alternden Killer und Drogenschmuggler. Mit dem Mann, der die Größe des rechtsextremen japanischen Schriftstellers Yukio Mishimas, des deutschen Terroristen Andreas Baaders und des amerikanischen Korea-Kriegers General McArthurs preist, inszeniert er ein suggestives Bild von der Bruderschaft von Schönheit und Gewalt. In der Erinnerung erscheint diesem erlesenen Connaisseur während eines Fluges zum Klang der Grieg´schen Holberg-Suite die Vision einer von Sarin vergifteten Stadt. Das Nervengas wurde 1995 bei einer japanischen Terroristensekte gefunden, die damit die Apokalypse-Prophezeiung ihres Gurus wahr machen wollte. Doch es hatte sich was mit der Erfüllung im Stahlgewitter. Kaum war nach dem 11. September 2001 der Krieg um Afghanistan ausgebrochen, zogen die Stil-Extremisten den Schwanz ein. In einem umstrittenen Interview mit der FAZ-Sonntagszeitung zog sich Kracht auf die Frage, wann er sich denn nun zum Einsatz melde, mit dem Hinweis auf seine Schweizer Staatsbürgerschaft aus der Affäre. Wieder einmal versteckte sich der Dandy im leichten Kolonialistenoutfit, der gern mit dem somnambul umflorten Blick eines Lawrence von Arabien auftritt, in den Falten seiner Ambivalenz.
Auch 1979 ist ein Spiel mit dem Feuer. Der Roman ist eine Reinigungsphantasie. 1979 ist das Jahr des Sieges der iranischen Revolution unter Ayatollah Khomeini. Schon mit dem Titel stimmt Kracht den Abgesang auf den dekadenten Individualismus des Westens an. Vom Ich zum Wir: Der Weg des Ich-Erzählers führt aus den schwülstigen Salons Teherans zu den chinesischen Umerziehungslagern. In denen gibt es nur noch Madenbrei für alle. Kracht bedient die Sirenen-Gesänge, der Westen habe seinen Spiritualismus aufgegeben. Nach dem erbärmlichen Tod seines Freundes in einem Teheraner Krankenhaus macht sich der Ich-Erzähler zur Pilgerfahrt zum Heiligen Berg Kailasch - für Buddhisten wie Hindus der heiligste Kraftort im Himalaya. Von dort verschleppt ihn die chinesische Armee nach Norden. Kracht malt die Wonnen der Askese aus: Die kostbaren hellbraunen Halbschuhe von Berluti müssen nach und nach lumpigen Filzsandalen weichen. Trotzdem lugt überall der selbstironische Schalk durch. Bei den rituellen Umrundungen des heiligen Berges in Tibet fällt ihm auf: "Ich hatte auch keine großartigen Gedanken dabei ... Ich setzte lediglich einen Fuß vor den anderen und lief um einen großen Steinhaufen herum."
Das Mittelmaß kann erst in der erhabenen Geste getilgt werden. Wie das Leiden an der unzureichenden Ästhetik in den martialischen Dezisionismus führen kann, zeigt das Beispiel Karl Heinz Bohrers. Ohne die puerile Ironie Krachts ficht der Herausgeber des Merkur seit Jahren gegen die ästhetische Banalität erst der Bonner, dann der Berliner Republik. Als Gegengift zum "politischen Provinzialismus der Deutschen" machte er in der November-Ausgabe der "Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken" den "souveränen" Gebrauch militärischer Mittel aus. Gegen Bohrers Bedürfnis nach der Ästhetisierung von Politik wirkt Krachts Literatur noch immer wie der Provokationsversuch eines aufmüpfigen Pennälers. Dieser Schnösel weiß, was Erzieher schreckt. Zu deutlich schielt hier ein agent provocateur auf die Schockwirkung verbotener Symbole. In Faserland versuchte er es mit der Reizvokabel "SPD-Nazi". In 1979 sieht er auf dem Berg Kailasch morgens plötzlich ein gigantisches Hakenkreuz aus Eis und Fels.
Nur wer von der Literatur Leben pur erwartet, kann sich darüber aufregen, dass Kracht in seinen Reisegeschichten die Rolle des blasierten, unbeteiligten Beobachters kultiviert, dem bei der Bahnfahrt durch Südostasien nur der Dreck auf den Scheiben auffällt. In 1979 verfeinert er es zu dem Bild des willenlosen, überfeinerten Individuums, das alle Geschehnisse ohne eigenes Zutun aufnimmt, passieren lässt wie ein weites Gefäß. Und sich am Ende selbst bescheinigt: "Ich war ein guter Gefangener". Doch so betört wie Mario vom großen Zauberer sind wir von diesem Gesang nicht. Auch wenn Kracht massiver als in Faserland alle Insignien der Dekadenz streut: Der Gefährte erscheint im Schlaf "unnahbar und schrecklich", Polizistenlippen wie "fleischige Blumen". Misst man das schmale Bändchen aber an den Stilvorgaben der Decadence wie sie etwa Joris Karl Huysmans mit Gegen den Strich gesetzt hat, kommt dieser Roman hölzern daher. Kracht holpert auf einem Trampelpfad sehr simpler Sätze gen China. Die Dekadenz läuft hier gleichsam auf Holzkleppern. Die ästhetische Raffinesse dieses reizenden kleinen Bändchens ist von kargem Reiz. Insofern gleicht sie doch eher der Uckermark. Was auch mal ein lohnendes Reiseziel für den Erfinder des grundsozialdemokratischen Mottos Ferien für immer wäre.
Christian Kracht: 1979. Roman. Verlag Kiepenheuer Witsch, Köln 2001, 183 S., 34, 90 DM
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