Der Knick in der Geschichte

Zwischen den Welten Gregor Sanders Debutband "Ich aber bin hier geboren"

Etwas hat sich verändert. Eine Fotografin trennt sich von ihrem Freund. Plötzlich hat sich etwas verändert. Eines Morgens erfährt ein Mann, dass ein alter Freund seine Frau verlassen hat. In jeder der neun Geschichten von Gregor Sanders schmalem Debütbändchen gibt es etwas, was der Erzähler in Hier und Jetzt den "Knick in der Geschichte" nennt. Um Beziehungskisten geht es aber nicht, auch wenn sich immer wieder labile Zweisamkeiten auflösen. Man muss diesen Knick metaphorisch verstehen. Denn an den verstreuten Details in diesen Geschichten, Fluchtepisoden aus der DDR, Zugereiste aus dem Westen, und so wie sie um die Jahre kurz vor und nach 1989 kreisen, kann man ablesen: Immer geht es darum, einen größeren Umbruch zu verarbeiten, der nur in Schemen zu sehen ist.

Ich aber bin hier geboren der Titel von Sanders Erstling hat etwas von einer trotzigen Identitätsbehauptung. Ein bisschen so wie die, mit der in den letzten Monaten die ganz jungen AutorInnen, die der Epochenbruch sonst eher cool ließ, plötzlich ihre Herkunft aus dem Osten wieder entdecken. Doch dem 1963 in Schwerin geborenen Sander geht es nicht darum, das Banner der regionalen Identität aufzupflanzen. Auch wenn der Landstrich an der Ostsee den meisten seiner Geschichten eine eigentümlich schwermütige Farbe gibt. Die Herkunft Ost webt er seinen Protagonisten eher unmerklich ins Charaktergewebe. Nur beiläufig lässt der Erzähler in der Geschichte Zu weiß, zu blau, zu ocker fallen, dass die namenlose Fotografin, die sich von ihrem Architektenfreund Georg trennt, "Spezialistin für ostdeutsche Landschaften, ostdeutsche Menschen, ostdeutsche Pflanzen und Tiere" ist. Nur einmal greift Sander zu einem drastischen Bild, um zu zeigen wie die Menschen den neuen Verhältnissen eine eigene Würde abtrotzen. Bernhard, der entlassene Aktivist aus der Konservenfabrik Grünborn an der Ostsee, stemmt sich gegen den Fall ins identitäre Nichts mit einem neuen Weltrekord. Sieben Tage schaut er schweigend aufs Meer. Das Fernsehen rückt an. Plötzlich wird er wieder beachtet.

Aber eigentlich will Sander nicht über das die Landnahme Ost klagen. Der Widerwille über die immer konformistischeren Lebensverhältnisse im Alltag unter westlichem Vorzeichen kommt subtil daher: neue Hotels, umbenannte Geschäfte. Er betreibt kein Marken-Labeling wie es manche seiner KollegInnen mit dem Aufkleber "Wilder Osten" gerade zu Tode reiten. Er braucht auch keine Nummernshow aus Markenartikeln Ost von Spreewaldgurken bis Pionierblusen, wie sie Good bye Lenin befeuert oder Jana Hensels Erinnerungsversuche für Zonenkinder in die Sackgasse der Retroästhetik geführt hat. Für derlei mehr oder weniger lustige Einbahnstraßen nutzt Sanders sein erzählerisches Handwerkszeug viel zu vielfältig. Die Perspektiven seiner Geschichten wechseln zwischen Mann und Frau, zwischen Ost und West. Sander zielt dabei auf die Gefühlslandschaften nach der Klimax. Er skizziert die erkalteten Emotionen, das Ankommen in den Realitäten, die plötzlich ganz anders aussehen als man sie noch durch das Brennglas der Hoffnung und der Leidenschaften auszumachen glaubte.

Und seine Geschichten nehmen die unspektakulären Veränderungen, die sich zwischen den Hemisphären anbahnen, auf. In Spielen lässt er mit dem Engländer James und der Russin Irina, den zwei Gelegenheitsschauspielern aus einem Off-Theater-Projekt, nicht nur zwei plötzlich Verliebte nachts in Berlin sondern die "beiden verfeindeten Familien des Kontinents" miteinander tanzen. Sander zielt auf die Übergangszone, wo sich alles in Nuancen oder halb bewussten Gesten äußert. Nicht umsonst heißt eine seiner schönsten Geschichten Zwischen den Welten. Da treffen sich Vera und ein Freund plötzlich nach Jahren am Berliner Ostbahnhof wieder. Zu der Freundschaft, die zu DDR-Zeiten zwischen den Teenagern leise aufglomm, kam es nicht. Vera wurde wegen ihres Ausreiseantrags von einem Tag auf den anderen ausgewiesen. Noch heute schmerzt ihn die Erinnerung an das geplatzte Abendessen. Jetzt sitzen sich zwei älter gewordene Erwachsene im Cafe gegenüber. Sie erinnern sich, wie sie zu DDR-Zeiten in einem Restaurant saßen und über die Orte sprachen, die sie nie zu erreichen glaubten: New York, London, Madrid und Venedig: "Sie blieben Schatten an einem weiß gedeckten Tisch." Wochen später liegt er im Zug nach Venedig. Er will Vera besuchen, die ihren Traum wahr gemacht hat. Jetzt hat die Möglichkeit, überall hin reisen zu können, das Erlebnis der unerreichbaren Orte "fast trivial" gemacht. Im Schlafwagen mit dem Kopf unter dem Fenster sieht er den "Himmel verkehrt rum" und fragt sich, "wie Venedig wirklich ist." Sanders Geschichte hält eine ganz leichtfüßige Balance zwischen konkreter Erinnerung und metaphorischer Verdichtung: Zwischen zwei Welten. Weggehen und Ankommen. In eine andere Richtung schauen. Von Traum zu Traum. Selten hat ein Autor ein so schönes Symbol für den Schwebezustand zwischen zwei unwirklichen Realitäten gefunden.

Kein Debüt ohne Makel. Manchmal hat sich Sander das triste Land an der Küste im Norden zu trist und platt zurecht geschnitten. Manchmal hat er zu viel Trauerwatte und den Flor der wortkargen Melancholie darauf gepackt. Aus einer sympathischen Abneigung gegen Klischeehelden gerät ihm sein Personal, meist eigensinnige Randfiguren, manchmal gesucht skurril. Hier und da knirscht es auch noch in den Erzählscharnieren. Doch auf der Messe der literarischen Meister von morgen werden wir Gregor Sander eine große Förderkoje für die stillen Talente reservieren.

Gregor Sander: Ich aber bin hier geboren. Erzählungen. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2002. 138 S., 14,90 EUR

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