Als zu Beginn der neunziger Jahre Bonner Kulturwissenschaftler erstmals einen privat finanzierten „Kulturwirtschaftsbericht“ vorlegten, krähte kein Hahn nach den Befunden. Heute haben fast alle deutschen Bundesländer in ihren Wirtschaftsministerien eine Stabsabteilung gleichen Namens, die regelmäßig Bestandsaufnahmen dieses „Industriezweigs“ vorlegen. Auf der ersten großen Jahrestagung der vor einem Jahr gegründeten „Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregierung hat nun auch Kulturstaatsminister Bernd Neumann diese Woche eine „Zukunftsbranche“ entdeckt.
Das plötzliche, massive Interesse des Staates ist kein Wunder: Schon vor zwanzig Jahren hatten die Bonner Forscher herausgefunden, dass die „Kulturwirtschaft“ im industriellen Stammland Nordrhein-Westfalen die klassischen Industrien Chemie, Kohle und Automobilbau abgelöst hatte. Und Investitionen in scheinbar unproduktive, geldfressende Kultureinrichtungen beachtliche wirtschaftliche Nebeneffekte nach sich ziehen. So hatte die Existenz des WDR-Avantgarde-Studios "Neue Musik" eine Musikgeräteindustrie in dem Land zwischen Rhein und Weser entstehen lassen. Wenn eine Stadt den Mittelstand mit Kleinaufträgen fördern will, so konnte man die Forscher überspitzt interpretieren, tut sie gut daran, eine Oper oder ein Museum zu gründen.
Der Begriff der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ ist so diffus wie schillernd. Coole Musiklabels gehören ebenso dazu wie der arme Poet, der sich im Hinterzimmer dem Büchner-Preis entgegen schreibt. Taugt aber für Projektionen. Kulturwissenschaftler sehen mit ihr das gelobte Land am Horizont heraufdämmern: eine Kulturgesellschaft der immateriellen Arbeit, in der Frauen und Migranten mehr zu sagen haben als sonst in der Gesellschaft. Die Industrie wittert einen Geschäftszweig ohne Rohstoffprobleme, in dem die Gewerkschaften weniger zu sagen haben. Und Politiker bekommen in Zeiten von Nullwachstum bei einem Wirtschaftszweig mit einem Jahresumsatz von 136 Milliarden Euro natürlich leuchtende Augen. Ganz zu schweigen von der Million Beschäftigter, die dort inzwischen Arbeit finden. Schützenhilfe erhalten sie von der Wissenschaft: „Kreativität ist die Hauptantriebskraft für ökonomisches Wachstum in den USA“ schrieb der amerikanische Soziologe Richard Florida 2002 in seinem Buch The Creative Class, eine Untersuchung, die unter Kreativen jeglicher Couleur inzwischen Kultstatus genießt. Grund genug also, da jetzt endlich einmal ganz groß einzusteigen.
Mindeststandards für kreativ Beschäftigte
Der „Kreativpakt“ den der Musikmanager Tim Renner, der Filmemacher Pepe Danquart und der Architekt Meinhard von Gerkan am vergangenen Wochenende vorgeschlagen haben, enthält durchaus Bedenkenswertes. Denn Mindeststandards für kreativ Beschäftigte, eine Sozialversicherung für alle Künstler und freier Zugang zum Internet, würden die Rahmenbedingungen vieler Künstler und Kreativer, mithin die Basis jeder Kreativ- und Kulturwirtschaft, deutlich verbessern. Und wenn Kunst und Musik obligatorische Fächer an allen deutschen Schulen wären und nicht nur fakultative Wahlfächer, würden auch immer genug Kreative, Sensible für den Wirtschaftsstandort Deutschland nachwachsen.
Trotzdem fühlt man sich bei dem Papier der selbsternannten Kreativaktivisten an die altbekannten Legitimationszwänge der Kulturförderung erinnert. Denn schon wenn sie von der Kultur- und Kreativwirtschaft schreiben: „Keine andere Branche wächst schneller“, definieren sie diesen nachwachsenden Rohstoff in erster Linie ökonomisch. Doch warum werden Kultur und Kreativität in diesem Land eigentlich nicht um ihrer selbst willen gefördert? Ganz ohne umsatz- und standortfördernde Hintergedanken?
Die Promotion einer ästhetischen Fähigkeit zur unmittelbaren Produktivkraft zeigt deutlich: Der Kapitalismus steuert entschlossen ins postindustrielle Zeitalter und stellt sich unter einen kreativen Imperativ. Sechzig Jahre nach der Abrechnung Max Horkheimers und Theodor W. Adorno mit der „Kulturindustrie“ ist der rasante Aufstieg der „cultural industries“ zum Geist und Motor eines neuen Kapitalismus bemerkenswert. Müsste sich die kreative Szene da nicht geehrt fühlen? Endlich soll sie einmal nicht brotlos am Rand stehen, sondern Zentrum einer kolossalen gesellschaftlichen Umwälzung werden. Doch so wie hier künstlerische Praktiken und Potentiale nicht nur zu direkt verwertbaren ökonomischen Standortfaktoren avancieren, sondern zur Leitidee einer Ökonomie der Innovation schlechthin, bahnt sich auch ein dramatischer Rollenwandel der Kunst an. Dabei sind die Zweifel längst nicht ganz ausgeräumt, dass die umworbenen Kreativen am Ende dann doch nur in Smartshops enden, die den Kozernen die Arbeit abnehmen, die sie nicht mehr bezahlen wollen.
Allzu viel (linke) Angst davor, dass die Kreativität nun verstaatlicht wird und der Künstler zum Agenten des Kommerzes mutiert, ist aber unangebracht. Denn Kreativität ist nicht planbar wie ein chemischer Prozess. Sie lebt von einem unkalkulierbaren Eigensinn. Deshalb bleibt Kreativitätsförderung ein Vabanquespiel mit ungewissem Ausgang. „Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität“ wusste schon Joseph Beuys.
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