Der Sieg der Schönheit

AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN STIL Beobachtungen zur amerikanischen Ästhetik im New Yorker Frühling

Der Aufstand der Straße." Kaum ein anderes Bild könnte den Hochverdichtungsraum der Hauptstadt der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts besser symbolisieren als das Bild eines Italieners vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Umberto Boccionis Bild The Street Rises aus dem Jahr 1910, das heute im Aufgang zur Klassikersammlung des Museums of Modern Art an New Yorks 53. Strasse hängt, zeigt ein Inferno zusammenfallender Perspektiven, umkränzt von ragenden Wolkenkratzern, Kränen und Gerüsten, in dem Strasse, Pferde, Menschen, Bäume, Wind und Geschwindigkeit zu einer kleingerasterten Dunstwolke aus rot und orange zusammenschmelzen.

Die Durchdringung von Zeit, Raum und Erinnerung, die der Futurist Boccioni herbeisehnte, ist Wirklichkeit geworden. Am aufgerissenen Times Square fallen imaginärer und realer Raum ineinander. Von den vier Seiten des hässlichsten Platzes der Welt fallen die Farbpixel der überlebensgroßen Werbebildschirme an den Frontseiten der Wolkenkratzer förmlich ins Auge des Betrachters. Der steht auf den gerade zur Renovierung bloßgelegten Stahlgerüsten der New Yorker subway, die ganz Manhattan unterhöhlt. "Where the history comes out alive" wirbt ein TV-Sender für seinen neuen Geschichtskanal. In Amerika muss Geschichte leben, wenn sie wahrgenommen werden soll.

Richtiger Aufstand in New York sieht heute bescheidener aus. Die Handvoll von Transvestiten und Prostituierten, die an einem sonnigen Samstagmorgen im Mai Downtown vor dem Woolworth-Building für mehr "Transgender Rights" demonstrieren, haben die blaugewandeten, sonnenbrillenverspiegelten Uniformierten des New York City Police Department mit blauen Absperrböcken umzingelt. Schräg gegenüber steht die City Hall am Ende eines kleines Parks mit blühenden Apfelbäumen. Hier verlas George Washington 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Mit seiner Mischung aus französischer Renaissance und englischem georgian style ist das kleine, wie ein Landhaus wirkende Gebäude mit der Freitreppe, auf dessen Uhrenturm Justitia die Waage hält, eigentlich ein Stilbruch - ein Akt architektonischer Distanzierung von dem monumentalen Neoklassizismus der späteren Hauptstadt Washington. Heute beherbergt der zierliche Amtssitz des Bürgermeisters einen Mann, der in den letzten acht Jahren einen ganz neuen Stil durchgepeitscht hat. Von hier versucht der rechte Republikaner Rudolph W. Giuliani mit law-and-order die anarchische Metropole brachial in Griff zu bekommen.

Kaum ein vernünftiger Mensch, der nicht ausspuckt oder Brechreiz bekommt, wenn man Giulianis Namen nennt. Aber nur sein plötzliches Krebsleiden, keine linksbürgerliche Mehrheit, konnte verhindern, dass der verhasste Mann, der früher als beinharter Staatsanwalt gegen die Mafia erfolgreich war, am Ende dieses Jahres noch einmal gewählt wird. Nun mühen sich vier farblose Bewerber der amerikanischen Demokraten um seine Nachfolge. Einen "neuen Stil" wollen sie einführen in die New Yorker Politik, betonten sie in ihrer ersten gemeinsamen Fernsehdiskussion zum Auftakt der primaries. Und versprachen als erste Amtshandlung, den hermetischen Sperrkordon aus Stahl und Bewachern um die City Hall abzurüsten, mit der sich Giuliani vor seinem Volk schützt, Seinen Kreuzzug gegen die Kriminalität wollen sie nicht aufgeben.


Politik als Symbol. Auf der Suche nach dem verlorenen Stil. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich in diesem Moment des Übergangs eine Stadt einer erstklassigen Stilikone erinnert. New York steht Schlange nach Jackie. Bis auf die Fifth Avenue stehen die Menschen in der ungewohnten Hitze, die New York in diesem Frühjahr überfallen hat, Schlange, um die Ausstellung ihrer offiziellen Garderobe aus den White House Years zu sehen, die noch bis Ende Juli im Metropolitan Museum of Art zu sehen ist - schräg gegenüber der Hausnummer 1040, wo Jackie nach dem Auszug aus Washington bis zu ihrem Tod am 19. Mai 1994 in einem Appartement lebte und morgens zum Joggen in den Central Park startete.

Man könnte diese ungewöhnliche Huldigung, durch die man wie durch die Londoner Kronjuwelen geschleust wird, als Akt der symbolischen Identifizierung mit dem amerikanischen Ersatzkönigtum der Präsidentschaft abtun. Teilweise werden Jackies Kleider wie das rosafarbene Kostüm, mit den Blut-und Hirnspritzern, das sie beim Attentat auf John F. Kennedy in Dallas 1963 trug, im Nationalarchiv aufbewahrt. Natürlich war diese symbolische Seite der Kennedy-Ära ein besonderer ästhetischer Patriotismus. Ihr Präsidentengatte wünschte sich, dass die Besucher aus dem Museum für amerikanische Kulturgeschichte, zu dem sie das White House in einer spektakulären Aktion umformte, als better americans herauskämen. Dennoch war sie mehr als ein Ornament des entspannten Imperialismus oder kultureller Katalysator einer kapitalistischen Modernisierung. Denn noch an den leeren Kleidern einer Frau in Staatsdiensten lässt sich ein Emanzipationsvorbild erahnen, das keine einzige feministische Vokabel brauchte. Die immense Wirkung Jackie Kennedys auf Frauen ihrer Generation rührte aus ihrem unnachahmlichen Gefühl innerer Würde und freier Haltung. Auch wenn sie ihrem Gatten, der sie nach Strich und Faden betrog, zeit ihrer Ehe treu war und hingebungsvoll die Frau an seiner Seite spielte, spürte jede: hier definierte eine Frau sich selbst.

Mit ihrem jugendlichen Glamour hob sie sich von ihren Vorgängern, dem mit dem Charme eines Feldlazarettbetreibers ausgestatteten Ehepaar Eisenhower ab. Mit ihm avancierte Jackie zur ersten Popikone, noch vor Marilyn, den Beatles oder Warhol. Meisterhaft nutzte sie für ihre Inszenierungen die Wirkung der puren, ungebrochenen Oberfläche, von Signalfarben und einer klaren, von Hubert de Givenchys berühmten pillbox-Hut konturierten Silhouette, mit der sie noch auf drei Kilometer hypnotische Aufmerksamkeit erzielte. Darunter leuchtete ihr immerwährendes Lächeln der Affirmation. Nirgends konnte man diese Stilpolitik deutlicher sehen als an dem Kleid ihres Lieblingsdesigner Oleg Cassini, mit dem sie ihren Staatsbesuch in Indien 1962 antrat. Mit "radioactive pink" beschrieb der damalige US-Botschafter John Kenneth Galbraith seine Farbe in einem Telegramm nach Washington.

Die Stilpolitik, die Jackie über diese chromatische Bindewirkung hinaus erzielen wollte, lässt sich an dem roten Wollkostüm von Pierre Cardin ablesen, das sie beim Staatsbesuch in Kanada trug. Das Kleid mit seinen verschränkten Rückengürteln war nicht nur eine Hommage an den Elan des Futurismus. Aufsehen erregte es, weil es die Farbe der berittenen Royal Canadian Mounted Police aufnahm, der die Begeisterung über diese Geste an den Gesichtern abzulesen war. Ihre sorgsam bis ins letzte Detail durchdachten Staatskleider waren symbolische Annäherungen. Mit ihnen kultivierte Jackie eine Kultur der subtilen Anspielungen und Zwischentöne. Ob es die den französischen Hilfstruppen des Generals Lafayette aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entlehnte Kokarde auf dem Seidenkleid zur Inauguration ihres Mann war, die Abstraktion des traditionellen indischen Rajah-Mantels über dem aufsehenerregenden Kostüm in Neu Delhi oder die Empirebrokatstreifen, den sie bei der Restaurierung des Weißen Hauses in den Red Room einfügte - Jackie Kennedys waren historische Notate, Entspannungsgesten, Gesprächsangebote.

Macht ihr Beispiel noch Schule? Oder bleibt sie eine entrückte Ikone wie auf Andy Warhols Druck Blue Jackie von 1964, das Christie´s in New York gerade für 210.000 Dollar versteigert hat? Wenn die New York Times für die sehenswerte Ausstellung mit dem Slogan wirbt, dass das Stilvorbild dieser ungewöhnlichen Frau "cannot be underestimated", mag das für die sechziger Jahre stimmen. Die Straßen der Welthauptstadt heute säumt jedoch die uniforme Eleganz der Globalisierung wie H, Banana Republic oder GAP oder die diagonalgegürtete Avantgarde der Technogeneration. Der Sinn der leidenschaftlichen New Yorkerin dafür, über das historische Detail Geschichtsbewusstsein zu evozieren, ist auf die Blendfassade geschrumpft. Sony hat auf das Dach seines gläsernen Hochhauses das Zitat einer Chippendale-Kommode und in die Lobby ein romanisches Kirchenschiff gebaut. Und von Jackies Kultur der subtilen Anspielung ist bei einer sonst so stilbewussten Minderheit, die gern starke Frauen bewundert, wenig zu spüren. Stilwandel in der Subkultur. Die verräucherte Solidaritätshöhle Stonewall in der Christopher Street ist out. Im dernier cri der New Yorker Szene, dem neonblau ausgestrahlten XL an den Chelsea piers am Hudson wo man im WC gegen riesige Tropenfischaquarien uriniert, agiert man cool und direkt. Die oben ganz designermodelosen Modellmänner hinter der Theke signalisieren nur eines überdeutlich: titties and ass.

Hinter Jackie Kennedys kalkulierten Inszenierung ihres öffentlichen Bildes spürte man immer den unausgesprochenen Glaube an den Sieg der strahlenden Schönheit über Elend, Krieg und Gewalt - ja über die herkömmliche Art von Politik. Ein Schutzschirm, den man gewiss jeder Raketenabwehr vorzöge. Aber eine zwiespältige Hoffnung. Mit ihrem atemberaubenden Pailettenkleid konnte sie Chruschtschow 1961 in Wien nicht aus der Zwangsjacke des Kalten Krieges befreien. Und die merkwürdig konventionellen Aquarelle eines Mannes namens Adolf Hitler aus seinen Jahren an der Wiener Kunsthochschule, akademisch steife Perspektivstudien süddeutscher Stadträume, die in einem Keller der US-Armee in Manhattan schlummern, und um deren Besitz dieser Tage in New York ein heftiger Streit entbrannt ist, zeigen, wie schnell die enttäuschte ästhetische Sehnsucht barbarisch umschlagen kann.

Auf der Samstagsdemonstration brach eine beleibte Transe in ausgefransten Jeans-Hotpants und Mireille-Mathieu-Perücke. aus der verstellten Demokoppel aus, stürmte auf keulenförmigen Stummelbeinen zur City Hall und schwenkte wütend ihr winziges schwarzes, brikettförmiges Täschchen, aus dem ein rosa Schnuller hing, gegen Giulianis Amtssitz. Seiner städtischen Schutztruppe hat der ein Tarndesign verpasst. Courtesy-Respect-Professionalism prangt auf jedem der weiß-blauen Streifenwagen, die noch bis spät in die Nacht um jeden Papierkorb im Central Park kreisen und unerlaubte Tanzbewegungen in den Nachtclubs ahnden. Die semantische Camouflage hat nicht verhindert, das die New Yorker Polizei mit tausenden Gerichtsverfahren wegen unangemessener Brutalität überzogen wurde. Von John F. Kennedys Hoffnung, dass die Welt "Amerika nicht nur wegen seiner Stärke respektiert, sondern wegen seiner Zivilisation" ist hier wenig übriggeblieben.

Stil, das signalisierte Jackie Kennedys Obsession für Mode und Design, ist ein Zustand des Seins. Die Rückbesinnung auf ihre Garderobe drückt die Sehnsucht nach einer unverwechselbaren Individualität mit visueller Prägekraft aus. Doch der First Lady Anknüpfung an die Moderne ist das eine und der wabernde trash der postmodernen amerikanischen Stilrealität, die stolz auf ihre wurzellose Vielfalt ist und an dem Eklektizismus, den sie sich daraus zusammenmixt, zugleich leidet, ist das andere. Die Stadt schwankt zwischen der down-to-earth-Lässigkeit einer Hillary Clinton oder der auftrumpfenden Geste ihrer Parvenüs wie Donald J. Trump, der seinen Wolkenkratzer an der Fifth Avenue mit Gold und rotem Marmor vollgestopft hat. In diesem historisch unbewussten Stillabyrinth kann man nicht nur in New York verloren gehen.

Am Strand von Cherry Grove, einem winzigen Dorf auf Fire Island, einer Sandbank vor Long Island, dem antiurbanen Refugium der New Yorker, liegt das Schloss Belvedere. Erbaut hat es der New Yorker Designer und Kulissenmaler John Eberhardt 1957, ungefähr zu der Zeit, als der Stilsiegeszug Jackie Kennedys begann. Der riesige Palast aus weiß gestrichenem Holz, eine Mischung aus Peterdom und Markusplatz, hinter Schilf, Kirschbäumen und Kiefern verborgen, ist das typische gay getaway paradise. Das historistische Stilbabylon, ist vollgestopft mit skurrilen Antiquitäten, deren Epochen ihr Besitzer nicht einmal nennen kann - ein Sieg der falschen Schönheiten. Neben einer Kopie der mystischen Vermählung Marias hängt die kolorierte Sex-Grafik des Tom of Finland und öltriefende Dilettantenromantik mit blonden Jünglingen, denen die Möwen am Strand aus der Hand fressen. Neben einem echten bronzenen borghesischen Fechter auf der Terrasse steht der Plastikapoll. "I want it to be a fantasy place for people" sagt sein greiser Besitzer freundlich und ohne Arg. Wo Jackie Kennedy mit Kultur verknüpfen wollte, ging es John Eberhardt um Kultur als Ornament des Rückzugs. "Respect our privacy" steht auf dem Eisengitter zu dem Guesthouse in dem nur Männer willkommen sind.

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