Die Form, natürlich die Form«, ruft der Germanist Leopold Wegensteiner, genannt Poldi, als ihn die Tresenkatze in einer Münchener Kneipe fragt, was ihm an dem Weißbierglas vor sich denn »so begehrenswert« erscheine, dass er es behalten möchte. Poldi sitzt mit seinem Freund Gregor Schattschneider, Held von Matthias Polityckis letztem und seinem neuen Roman, in der »Brokers Bier-Börse« beim Weißbier. Und das trinkt man bekanntlich aus besonderen Gläsern - groß und lang und über dem Fuß ausladend geschwungen.
Matthias Polityckis literarische Oberflächen sind von hohem Wiedererkennungswert. Jeder hat schon mal zu tief in ein Weißbierglas geschaut. Auch wenn es ein Männerfetisch ist. Man kann an ihm Symbolisierung so gut demonstrieren, dass sie jeder versteht. In seinem Roman über die Liebe und die Lebensmitte verfällt Polityckis Mann von vierzig Jahren nicht in melancholische oder erhabene Selbstreflektionen. Gregor Schattschneider, den wir schon aus den ersten drei Lebensjahrzehnten aus Polityckis Weiberroman (Freitag 37/97) kennen, ist der identifikationsfähigere Normalfall: Als freier Autor ein mäßig erfolgreicher Kleinunternehmer mit zwei Kilo Übergewicht, der in einem Singleparadies zwischen Miefsocken, Plastikblumen und altem Camembert vor sich hinwurschelt. Am liebsten unterhält sich der Klappentexter mit Poldi in Bierhöllen über ideale Frauenbeine, die sich nach dem Verhältnis von Achillesferse und Stöckelschuhhöhe bemessen. Das Modell dafür ist eben das Weißbierglas.
Poldis Entzückensruf an der Theke muss man also als ästhetisches Bekenntnis lesen. Gleicht er doch zum Verwechseln Polityckis »Bedürfnis nach der gelungenen Form« aus seinem Essay Kalbfleisch mit Reis!. In ihm hatte der 1955 geborene Autor der verquasten Suhrkamp-Literatur den Kampf angesagt und mit einer »literarischen Ästhetik der 78er-Generation« einer ominösen Identitätskohorte gegen die vergrübelten 68er ff. einen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur erpolemisiert. Polityckis seitdem nicht enden wollender »Kampf für eine neue Äusserlichkeit« bietet jede Menge Stoff für Missverständnisse und Misstrauen. Doch dass seine Nietzsche entlehnte Ästhetik der »Oberfläche aus Tiefe« gut funktioniert, dafür liefert der Mann von vierzig Jahren ein neues Beispiel. Oberfläche und Oberflächlichkeit sind bei Politycki keineswegs dasselbe.
Denn seine Oberflächen transportieren mehr als gut beobachtete Accessoires der 90er Jahre: Zu Gregors Yucca-Palme aus den 80er Jahren sind Adidas-Klamotten, Tattoos und Dockers gekommen. Die Geschichte dieses Autors, der sich mit vierzig - nach Kristina, Tania und Katharina aus dem Weiberroman - in eine Affäre mit Marietta stürzt, der femme fatale mit dem graublaugrünen Blick, die einen Salon für die Münchner Intelligenzschickeria führt, ist die Geschichte der gescheiterten Modernisierung einer Zwischengeneration. Auch wenn die nicht ganz so häufig in Striplokale gegangen ist wie bei Politycki.
Aus so einem hartnäckigen Kneipengänger der 80er Jahre in Levi's 501, Koteletten und spitzen, schwarzen Schuhen wird so schnell kein postmoderner Lebemann, der zwischen den Identitäten switcht wie ein CD-Wechsler. Mag der neue Anzug auch noch so vage graublaugrün schimmern. Eher schwankt der Weiberheld der Unentschiedenheit zwischen seiner »Fastfreundin« Grischa, der russischen Asylantin mit Herz und Koalabärrucksack, die in einem Nachtlokal strippt, und der lasziven Lady, die ihm im entscheidenden Moment aber unter dem Arm wegdämmert.
Der Weiberroman endete mit dem Mauerfall 1989. Die Liebesgeschichte mit Marietta sollte eigentlich den Ausbruch aus dem Alltagsschlamassel bringen. Über den Augenbrauen wächst die Altersfalte, schon zeichnen sich Prostata und Rentnerbrille am Horizont ab. Die unnahbare Marietta, die mehr »die Bedingung der Möglichkeit« liebt als die Möglichkeit selbst, ist der fleischgewordene Konjunktiv. Doch ihre Liebe ist so unerreichbar wie die Utopie des Neuanfangs: »Am liebsten wäre Gregor so stehengeblieben und hätte sie von ferne verehrt«. Es lockt die Sehnsucht nach dem Vertrauten - das Kuscheln mit Grischa.
Hat Politycki die 78'er-Generation, die sich bisher immer nur verweigert habe, mit seiner Kunst zu neuer Verantwortung aufgerüttelt? So nachhaltig, wie er sie seit ein paar Jahren mit der Forderung nervt, dass sie in dem »herrschaftsfreien Raum« der Neunziger endlich »Tafeln« einer eigenen Vision aufstellen, agiert er wie ein Joschka Fischer der Gegenwartsliteratur, sammelt die »pragmatischen Kultur-Realos« gegen eine »altgewordene literarische Kultur«, deren Leitstern er im Roman mit dem schönen Satz: »Es gibt kein richtiges Fremdgehen mit der falschen Frau« einen kleinen Seitenhieb verpasst. Beider Werdegang ist die Geschichte einer Läuterung. Buchautor Politycki als unnachsichtiger Brecher der erzählerischen Regelpoetik, Buchhändler Fischer als suhrkampgestützter Straßenkämpfer gegen die Systemregeln. Doch von den strengen Regeln der Avantgarde, wie sie Politycki noch in seinem 1993 erschienenen Buch Taifun über Kyoto durchexerzierte, hat er sich auf die sanfte Irritation zurückgezogen. Diese Ästhetik des »Dritten Wegs« (Friedhelm Rathjen) ist die des Klassenkompromisses: Veränderung erreicht man in homöopathischen Dosen, eine Art sozialdemokratisierte Reformästhetik. Die avantgardistischen Restbestände muss man sich in ihrer Wirkung wie die Gumminoppen auf der Straße vorstellen, mit der rotgrüne Stadtregierungen in verkehrsberuhigten Zonen die Geschwindigkeit drosseln wollen. Die eingeschwärzten Passagen, zerstückelten Satzanfänge und eine geradezu anarchische Dialogtechnik unterminieren einen Erzählstil, den Politycki bei Nadolny als »prämodern« kritisiert, sanft.
So zusammengeschraubt sie manchmal wirkt. Zu den Vorzügen von Polityckis Kompromissästhetik gehört, dass in ihr Massengeschmack und Alltagsszenerien so pralle, lebensechte und komische Gestalt annehmen wie selten. Man riecht geradezu den Bierdunst zwischen den Zeilen. Diesmal hat sie sogar ästhetische Partizipation ermöglicht. Denn der Roman Ein Mann von vierzig Jahren entstand auf Anregung des ZDF unter Zuschauerbeteiligung im Internet. Im Gegensatz zu Rainald Goetz' Netztagebuch, wo man einen Tag später nur nachlesen konnte, was der Autor am Vortage zu Papier gebracht hatte, konnten die Zuschauer Politycki in seiner Hamburger Schreibstube monatelang nicht nur über die Schulter schauen. Sondern auch über die Handlung mitbestimmen, was zum - vom Autor nicht beabsichtigten - Scheitern der Liaison Gregor-Marietta führte. So erstand die gute alte Gruppenarbeit der 80er Jahre wieder auf. Das Grenzverhältnis von Ästhetik und Demokratie zeigte sich aber nicht nur daran, dass sich Politycki nicht mehr frei fühlte in ästhetischen Entscheidungen. Sondern auch daran, dass die Geschichte mit Marietta in ihrem Schloss in Feldafing insgesamt doch etwas courtsmahlerhaft geriet.
Trotzdem ist Ein Mann von vierzig Jahren mit seinen perfekt gearbeiteten Oberflächen eine gelungene Dialektik aus Abschließung und Auflösung. Auch wenn das Projekt mit chat-room und einer Marietta-Wahl unter den Fans markttüchtig ein Erfolgsmodell auswalzt. Und auch seine schon im Weiberroman erprobte Methode, mittels in den Fußnoten eines als verlorenes viertes Kapitel des Weiberromans nachgelassenen Textes, der von einem Herausgeber seinerseits aus unzähligen Fragmenten zusammengesetzt wurde, im Untertitel euphemistisch »Roman« genannt, Zweifel an unzähligen Details des Autors Schattschneider, ja an seiner Autorschaft überhaupt zu säen, ihn als »unfeines Geimenschaftsprojekt« einer Gemanistenclique zu denunzieren, grenzt an jene »Marottifizierung« des Stils, die Rainald Goetz an einigen Kollegen gegeißelt hat. So virtuos, wie Politycki diese Verschleierungstechnik mit ihrer ironischen Spitze gegen den Historisierungswahn der Erbsenzählergermanistik aber erneut vorführt, setzt er Text und Autor auf eine schiefe Ebene, auf der ihr Sturz ins Bodenlose so absehbar ist, wie das Umkippen eines Betrunkenen, der auf einem Barhocker schaukelt. Die porösen Oberflächen der hochcodierten Avantgarde, gegen die Politycki mit ungut antiintellektuellen Unterton polemisiert, behalten ihre Reize. Wer ästhetisch wirklich etwas erreichen, »existenziellen Furor« rüberbringen will, muss meist tiefer unter die Oberfläche kratzen. Aber vielleicht macht gerade Polityckis schlagfaltenverschattetes Spiegelbild des entschlusslosen Absackers dem einen oder anderen Veränderungsbeine. Oder bringt ihn wenigstens halbwegs in Form.
Matthias Politycki: Ein Mann von vierzig Jahren. Roman. Luchterhand-Literaturverlag, München 1999, 340 S., 44,- DM.
Matthias Politycki: Die Farbe der Vokale. Von der Literatur, den 78ern und dem Gequake satter Frösche. Luchterhand-Literaturverlag, München 1998, 272 S., 38,- DM.
http://novel.zdf.de/
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