Die Kinder des Off

Performance Immer mehr Künstler sind unzufrieden mit der herrschenden Kulturpolitik. Sie organisieren sich jetzt selbst

"Anwalt der Kulturschaffenden". Mit diesem Versprechen wandte sich im Winter 2005 ein bis dato eher unauffälliger Politiker an die intellektuelle Szene. Bundeskanzlerin Merkel hatte den CDU-Abgeordneten Bernd Neumann zum neuen Kulturstaatsminister ernannt. Der Parlamentarier war zwar lange Jahre medienpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion im Deutschen Bundestag gewesen. Einen Namen hatte sich der 1942 geborene Pädagoge aber eher als Funktionär gemacht. Nun galt es den Verdacht zu zerstreuen, hier dürfe ein verdienter Parteisoldat auf seine alten Tage die Abschiedsrunde im 50 Prozent-Ministeramt drehen - jenem Zwitter aus Staatssekretär, Minister und Kanzleramtsabteilung, den Gerhard Schröder 1998 aus dem Hut seiner Wahlversprechen gezaubert hatte.

Einmal im Amt, tat Neumann, was Minister so tun: Er eröffnete das Bodemuseum, ließ sich samt Chefin bei der Berlinale sehen und traf seinen französischen Amtskollegen. Bestimmte "Kulturschaffende" übersah er aber lieber. Als der Deutsche Bundestag am 19. Januar über den Antrag abstimmte, die Schleifung des Palastes der Republik aufzuschieben, um dem erfolgreichen Kultur-Bündnis "Volkspalast" die weitere Bespielung der verseuchten Historiengräte zu ermöglichen, hob Neumann mit 431 anderen Mitgliedern des hohen Hauses die Hand für den Abriss.

Man sieht: Ein Kulturminister schützt vor Ignoranz nicht. Vielleicht sollte es sich die Schweizer Initiative "Kulturministerium.ch" also noch einmal überlegen, ob sie jenseits der Alpen wirklich auch so ein Amt installieren will. Zugegeben, die Kultur ressortiert dort in dem Gemischtwarenladen des Schweizer Innenministeriums neben Sport, Sozialem und Renten. Der oberste Kulturbeamte der Schweiz heißt Jean Frederic Jauslin. Der Direktor des "Bundesamtes für Kultur" ist nicht dem Parlament verantwortlich, sondern nur seinem Chef, dem Politiker Pascal Couchepin von den Schweizer Freisinnigen. Aber eine Minister-Schwalbe, das lehrt das deutsche Beispiel, macht noch keinen Kultursommer.

Das Projekt "Kulturmnisterium.ch" der Luzerner Kulturaktivisten Beat Mazenauer und Adi Bluhm atmet eine gehörige Portion Chuzpe. Weil sich die Schweizer Bundesregierung aus allerlei kniffligen Proporzgründen seit Jahren nicht dazu durchringen mag, einen eigenen Kulturminister zu berufen, ließen die beiden eben einen wählen. Sie legten eine Website an und schrieben einen Urnengang aus. Im Internet entbrannte ein heftiger Wahlkampf unter 32 Kandidaten. Bei der digitalen Abstimmung im vergangenen Herbst siegte dann der Thuner Netz- und Aktionskünstler Martin Lüthi alias Heinrich Gartentor knapp vor einer jungen Grünen. In zwei Jahren soll neu gewählt werden.

Den Tatbestand der Amtsanmaßung erfüllt das neue "Kulturministerium" nicht. Denn in der Schweiz gibt es kein Ministerium mit diesem Namen. Offiziell heißen die Minister hier Bundesräte. Eher ist dieses Schattenministerium eine Gratwanderung zwischen Dada und Aktionskunst: die Konstruktion einer vermissten Realität aus dem Geist der Performanz; angewandte Postmoderne sozusagen. Das pflichtschuldige Ritual, mit dem ein echter Minister wie Neumann politische Aktivität bloß suggeriert, macht aus dem unechten Minister Gartentor eine wirkungsmächtige Größe. Als der Schweizer zusammen mit seinem "Generalsekretär" Mazenauer vergangenen Oktober auf der Frankfurter Buchmesse die ministeriellen Visitenkarten vorzeigte, wollte das Protokoll schon eine Eskorte stellen. Und als Gartentor kürzlich auf Spitzbergen ein Stipendium absaß, erkundigte sich der Gouverneur der norwegischen Provinz, ob der "Herr Minister" einer Einladung zum Dinner Folge leisten würde.

Kürzlich beorderte der unkonventionelle Mann Künstler, Feuilletonisten und Kulturwissenschaftler zu einem Brain-Storming über die Kulturpolitik der Zukunft ins ehrwürdige Benediktinerkloster Romainmoitier bei Lausanne. Gesponsert wurde die Tagung unter dem offiziösen Titel "Der Kulturminister lädt ein" von der Kulturstiftung des Schweizer Kaufhauskonzerns Migros. Einen ersten Erfolg ihrer Anerkennungs-Strategie können die virtuellen Ministerialen verbuchen, wenn der stellvertretende Chef des Schweizer Kulturamts am 19. März erstmals öffentlich auf einem Podium mit dem "Kulturminister" über die eidgenössische Kulturpolitik streiten wird.

Der Schweizer Coup ist nur ein Vorbote des kulturpolitische Erdbebens, das der Politik hierzulande womöglich erst bevorsteht. Das Projekt "Kulturministerium.ch" besticht mit der zivilgesellschaftlichen Aneignung staatlicher Symbole. Andere wollen genau dieses Objekt der klammheimlichen Begierde in die Mangel nehmen. Der Berliner "Volkspalast", jenes Bündnis der alternativen Szene rund um den Palast der Republik zauberte zwar auch zwei Jahre lang ein Feuerwerk der Kleinkunst, an das man sich noch lange erinnern wird. In erster Linie ging es der bunten Truppe aber immer um Kulturpolitik. Vom legendären Ahornblatt bis zum Palast wollte sie die fatale Kontinuität des Ikonoklastischen durchbrechen, mit der in der deutschen Hauptstadt noch die kleinste symbolische Erinnerung an die DDR getilgt werden soll.

Gegen den Abriss wettert auch die neue "Kulturpartei", die der Zehlendorfer Maler und Fotograf Malte Brants gerade in Berlin gründet. Ihm oder Künstlern wie Tom de Toys vom Kunsthaus Tacheles oder Tim Schneider, der das Neuköllner Gruselkabinett "Karmanoia" betreibt, geht es aber eher um die Mühen der parlamentarischen Ebene. Es sind nicht gerade die Methoden der ästhetischen Avantgarde, mit denen da ein harter Kern im Hinterzimmer der kleinen Künstlerbar "Z" in Berlin-Mitte seit ein paar Monaten um Programm und Satzung feilscht. Doch die Zeit drängt: Die neue Partei will bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen im Herbst diesen Jahres den Altparteien erstmals Konkurrenz machen.

Ihr Horrorbild von "geschlossenen Theatern, arbeitslosen Kulturschaffenden und leer stehenden Museen" ist arg übertrieben. In ganz Europa sprießen Museen, Ausstellungshäuser und Festivals wie Pilze aus dem Boden. Neue Fördereinrichtungen wie die 2002 von der rotgrünen Bundesregierung gegründete "Kulturstiftung des Bundes" oder der Berliner Hauptstadtkulturfonds brachten einen massiven Mittelzuwachs, der aus Underdogs der Szene wie dem Berliner Medienfestival "transmediale" oder dem Kunstspektakel "berlin biennale" über Nacht hoch dotierte Leuchttürme der Bundeskulturpolitik machte. Doch das tief sitzende Unbehagen über den Stellenwert der Kultur in der offiziellen Politik, ihre falschen Signale beim kulturellen Erbe und die Geringschätzung der Alternativkultur teilen sie mit Politikern wie Adrienne Göhler. In diesen Tagen legt die scheidende Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds ihre Streitschrift Verflüssigungen vor. Darin plädiert sie vehement für den Wandel vom Sozialstaat zur "Kulturgesellschaft" - auf der Basis eben dieses Bodensatzes.

Natürlich agieren die Initiativen in dem Vakuum der offiziellen Kulturpolitik. Die hat zwar tausend Projekte, aber keine Idee. Als die kulturpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Monika Griefahn, lange Jahre Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages, vor kurzem die Agenda ihrer Fraktion für die neue Legislaturperiode vorstellte, betete sie einen Warenhauskatalog vom Urheberrecht bis zum "Zentrum gegen Vertreibung" herunter. Programmatisches, wie sie einst in der legendären Hilmar-Hoffmann-Formel "Kultur für alle" gipfelten, kam ihr nicht über die Lippen. Die Politik beschwört gern die Zivilgesellschaft und die Freiheit der Kunst. Im Ernstfall wird es ihr aber schnell mulmig. Auch Griefahn stimmte für den Palast-Abriss. Und als der Schweizer Jung-Star Thomas Hirschhorn im Dezember 2004 im eidgenössischen Kulturzentrum in Paris einen provokativen Parcours zum Thema I love Democracy von Wilhelm Tell bis Abu Ghraib ausbreitete, gab es Tumulte im Berner Parlament. Vor solchen politisch motivierten Attacken schützte die Kunst vermutlich auch kein "Staatsziel Kultur" in irgendeiner Verfassung.

Höchste Zeit also, dass "die Kultur endlich mehr Selbstbewusstsein zeigt". Generalsekretär Mazenauers Formel klingt wie Heinrich Bölls Schlachtruf vom "Ende der Bescheidenheit" aus dem Jahr 1969. Doch Selbstbewusstsein wofür? Gegen die sozialpolitischen Forderungen Gartentors wird man schwerlich etwas einwenden können. In der Schweiz gibt es noch keine Künstlersozialkasse wie in Deutschland. Doch ansonsten schwankt die Programmatik der neuen Kulturpolitik von unten zwischen Revolution, Innovation und Lobbyismus.

Zwar will die Kulturpartei Kunst als "medialen Kontrapunkt" gegen die Macht der Medienkonzerne setzen. In der Schweiz wie in Deutschland kämpft man für Kommunale Galerien und den Nulltarif für Museen. Gleichzeitig perlen den selbsternannten Kulturpolitikern Marketingvokabeln nur so von der Zunge. Die Kulturpartei lobt Kultur als "Software des Geistes" und "unique selling position". Gartentor, nach eigenem Bekenntnis ein "Kind des Off", rechnet Kultur plötzlich zur "Kernkompetenz des Staates". Sein Ministerium soll "kritische Auseinandersetzungen" anzetteln. Doch der fiktive Minister hat sich in den wenigen Monaten seiner Amtszeit so sehr in den staatsmännischen Gestus verliebt, dass ihn die linksalternative Wochenzeitung daran erinnern musste, dass die Stiftung Pro Helvetia, das Schweizer Pendant zum deutschen Goethe-Institut, für deren Erhalt Gartentor sich stark gemacht hatte, eine kritikwürdige Agentur der "geistigen Landesverteidigung" sei. Und wenn man die Klage der Kulturpartei hört, "Bürokratie und unflexible Richtlinien erschweren den jungen, innovativen Projekten die Möglichkeit, Projektförderung zu erhalten", meint man die Stimme der Schmuddelkinder des Off zu vernehmen, die endlich auch einmal an die Fleischtöpfe wollen.

Dazu kommt ein Hang zur naiven Sozialtherapie: Für die Kulturpartei fördert Kultur "Empathie und den verantwortungsvollen Umgang der Menschen untereinander" und damit eine "gut funktionierende Gesellschaft". Mit diesem Anflug von Kulturkonservatismus stehen sie freilich nicht allein. Die Wende von der Emanzipation zur Bewahrung hatte schon der amerikanische Soziologe Richard Sennett intoniert, als er in seinem 2005 erschienenen Buch Die Kultur des neuen Kapitalismus mit Blick auf den liberalisierten und fragmentierten Sozialstaat die Frage nach der Kultur so gestellt hatte: "Welche Werte und Praktiken können den Zusammenhalt der Menschen sichern, wenn die Institutionen, in denen sie leben zerfallen?"

Kultur soll den Frieden sichern, die Völker verständigen und durch ästhetische Sensibilisierung schon im Kindesalter "neue Produktivkräfte freisetzen". Wie viel Erfolg diesen Idealen der alternativen Kulturpolitik auch beschieden sein mag. Über eine Langzeitwirkung scheinen sie sich am wenigsten im Klaren zu sein. Die massive Aufwertung der gesellschaftlichen Rolle von Kunst und Kultur, für die sie kämpfen, könnte einen Mythos stärker entzaubern als alle Kritik des Künstlergenies seit dem 19. Jahrhundert. Bislang hat sich der Künstler Heinrich Gartentor immer etwas auf seine soziale Sonderrolle eingebildet. Er verdient schon mal sein Geld damit, dass er sich als unabhängiger ästhetischer Beobachter anheuern lässt wie jüngst bei einer Reifenfabrik oder beim Bau des Thuner Fußballstadions. In Zukunft droht ihm womöglich die Erhebung zum staatlich anerkannten und geprüften Querdenker - "Ansprechpartner" würde Bernd Neumann wahrscheinlich sagen.


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