In der Gothaer Cosmarstrasse 10 ging es Ende Mai 1875 hoch her. 127 deutsche Sozialisten versammelten sich fünf Tage lang in der Gaststätte von Ottilie Kaltwasser, die den idyllischen Namen Tivoli trug. Ein Teil der Tagenden gehörte zu August Bebels Sozialdemokratischer Arbeiterpartei. Ein Teil von ihnen zu Ferdinand Lassalles Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein. Zusammen hoben sie nach heftigen Debatten die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ aus der Taufe.
Das Programm, das die neue Partei sich auf dem Gothaer Parteitag gab, war niemand Geringerem als Karl Marx eine gründliche Lektüre wert. Seine „Randglossen zum Programm einer Arbeiterpartei“ gehören nach dem Kommunistischen Manifest und dem Kapital zu den bedeutendsten Do
zu den bedeutendsten Dokumenten des Marxismus.1890 taufte sich die neue Partei in SPD um, gab sich 1891 in Erfurt ein stramm marxistisches Programm. Trotz beispielloser Hetze in den Medien und trotz Bismarcks Sozialistengesetzen wurde diese radikale Truppe zur stärksten politischen Kraft im Deutschen Reich. Eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die auch heute noch staunen macht. Und – nebenbei gesagt – eigentlich mehr an die Geschichte der Linkspartei erinnert als an die Träume der Steinmeier-SPD.Gotha liegt in Thüringen. Erfurt liegt in Thüringen. Und vielleicht erklärt der Mythos dieser Orte das Auftreten des SPD-Spitzenkandidaten Christoph Matschie am gestrigen Wahlabend im Erfurter Landtag. Ein ähnlich bedeutendes Programm wie die SPD rund 130 Jahre zuvor hat Matschies Truppe zwar nicht zu bieten. Aber zumindest das historische Bewusstsein, das diese Bewegung mehr als hundert Jahre zuvor nach oben trug, scheint noch in den Köpfen überlebt zu haben: Wir sind die stärkste der Parteien! Anders ist wohl kaum zu erklären, wie Matschie aus einer Position markanter politischer Schwäche das Recht ableitet, der Stärkste im Lande zu sein.Hauchdünn vor der FDPDie SPD ist in Thüringen trotz leichter Zugewinne nach der Linkspartei nur noch drittstärkste Kraft. Noch trauriger sieht es in Sachsen aus. In dem Land, in dem August Bebel einst triumphale Wahlerfolge in seinem sächsischen Wahlkreisen in Glauchau-Meerane und später in Dresden einfuhr und das preußische Dreiklassenwahlrecht aushebelte, liegt die SPD mit mageren zehn Prozent der Wählerstimmen nur noch hauchdünn vor der Partei der Besserverdienenden, der FDP.Man sollte meinen, dass diese politisch-programmatische Randlage Anlass zu einer gewissen Bescheidenheit wäre, zu Reflexionen über Fehler und Ursachen, Stategie und Taktik . Aber davon ist der drittklassige "Spitzenkandidat" weit entfernt. Lassen wir die naheliegende Frage nach den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie einmal beiseite. Der kindische Trotz, mit dem Matschie meint, dem siegreichen linken Konkurrenten Bodo Ramelow die Anwartschaft auf das Amt des Ministerpräsidenten absprechen zu können, zeigt wie stark die Imagination einer vergangenen Größe das praktische Handeln der real existierenden Sozialdemokratie von heute immer noch bestimmt.Autosuggestion hat Tradition in dieser SPD. Die neun Parteivorsitzenden, die die Partei seit dem Rücktritt Willy Brandts verschlissen hat, waren allesamt der Meinung, Charisma und Bedeutung dieses Amtes wüchsen einem quasi automatisch, spätstens aber mit der Übergabe der berühmten Taschenuhr August Bebels zu.Seine tragischste Verkörperung fand der Irrtum, nachahmender Habitus sei wichtiger als politische Substanz, in der Person Rudolf Scharpings. Bei seinem Bemühen, so gravitätisch aufzutreten wie seine berühmten Vorgänger, wirkte er immer eher so, als habe er den Krückstock August Bebels verschluckt.Bald wieder die GrößtenEs war diese Autosuggestion, mit der die SPD in den achtziger Jahren die Grünen zum Verschwinden bringen wollte. Nun soll sie auch die Linkspartei aus der politischen Arena verbannen. Wahlniederlagen gelten in dieser politischen Psychologie nicht wirklich. Sie markieren nur eine historische Zwischenphase, eine zeitweilige Schwächephase einer unzerstörbaren Formation, für die gilt: Bald sind wir wieder die Größten. Die Rückkehr in die alte Spitzenstellung ist nur eine Frage der Zeit. Deshalb kann die SPD auch ruhig jetzt schon wieder ihren angestammten Platz einnehmen.Anders gesagt: Matschies Auftritt am Wahlabend ist ein Beispiel für den, in der materialistischen Geschichtsphilosophie eigentlich nicht vorgesehenen Sieg des Überbaus über die Basis. Der aber nicht endlos währen kann, wie man an den letzten Zuckungen des Honecker-Regimes sehen konnte, als dessen „Erbin“ die Linkspartei heute fälschlich noch gesehen wird. Matschie mag sich in Thüringen vielleicht mit einer Großen Koalition über die Runden retten. Die Lage seiner Partei gleicht immer mehr dem Moment in Tom--Jerry-Zeichentrickfilmen, wo die Katze, die die Mäuse verfolgt, in der Luft noch weiter rennt, während ihr der Balken unter den Füßen längst weggezogen ist.Nun könnte man meinen, der Visionär Matschie ist seiner Zeit einfach voraus. Er sieht eben etwas, was wir nicht sehen: Ein neues sozialdemokratisches Zeitalter am Thüringer Horizont heraufdämmern. Daher rührt seine geradezu autistische Selbstgewissheit. Doch bis der nächste Gothaer Vereinigungsparteitag diese Hoffung wahr macht, bauen wir auf Willy Brandts „mündigen Bürger“. Politische Arroganz hat der bislang noch fast immer rechtzeitig bestraft.