Jesus mit Waffe. Die Besucher der Kunstmesse in Madrid staunten vergangene Woche nicht schlecht, als sie plötzlich einer Statue gegenüber standen, auf der der Messias eine Rakete in der Hand hielt. Mit seinem Kunstwerk wollte der Spanier Oscar Seco nicht etwa ein Signal für ein militantes Christentum im ausgebrochenen Kampf der Kulturen setzen. Vielmehr wollte er gegen die "unumschränkte Macht jeglicher Religion" protestieren und für die freie Meinungsäußerung einzutreten. Freilich ging die plakative politische Botschaft im Wirbel eines der größten internationalen Kunstmärkte ebenso unter wie die Tatsache, dass hier immerhin ein religiöses Symbol zweckentfremdet wurde. Der Vatikan rief nicht zur Stürmung der spanischen Botschaft auf, empörte Christen verbrannten keine iberischen Fahnen. Man mag das mit Abstumpfung erklären. Von George Grosz´ Christus am Kreuz mit Gasmaske bis zu Maurizio Cattelans Installation des vom Meteoriten getroffenen Papst Johannes Paul II. - kaum eine veritable Kunstaktion der Westmoderne kommt heute mehr ohne blasphemische Anspielung aus. Ist "der Westen" also toleranter als "der Orient"?
Der gelassene Umgang mit dem gotteslästerlichen Artefakt in der einstigen Hochburg des ersten Euro-Islam sollte aber nicht dazu verleiten, die Staaten des Westens als Hort eines problemlosen Säkularismus anzusehen, in dem die Religion zur bloßen Privatsache geschrumpft ist und keine öffentliche Geltung mehr beansprucht. Diese ist vielleicht das wichtigste Verdienst der kleinen Studie, die der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf gerade vorgelegt hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es eines Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik bedarf, um noch einmal nachhaltig darauf aufmerksam zu machen, dass das ius divinum, das den Orient (nicht nur in Gestalt des Bilderverbots) heute so bruchlos zu regieren scheint, seine Entsprechung im Westen hat.
Grafs glänzender Essay, eine Art Nachschrift zu seinem 2004 erschienenen Band Die Wiederkehr der Götter besticht durch Relativierungen und Differenzierungen, die der Laie der Theologie womöglich nicht zutraut. Moses Zehn Gebote, die im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen, kennzeichnet er gelassen als eine Melange aus "justitiablem Verbot und ethischem Appell". Auch das historische Gedächtnis der Theologie ist nicht zu verachten. Graf erinnert noch einmal daran, wie religiöse Pathosformeln die westliche Aufklärung prägten, die jetzt überall zähneblitzend verteidigt wird. Die Protagonisten ihres Urknalls, der Französischen Revolution, versuchten Gott bekanntlich durch die Verehrung eines "Höchsten Wesens" abzulösen.
Doch Graf hält sich nicht ungebührlich lange mit der Begriffsgeschichte der Gottesgesetze auf. Zielstrebig steuert er auf ihr erstaunliches Nachleben in der säkularen Realität heute zu. Kritisch weist er darauf hin, dass der Vatikan es bis heute nicht aufgegeben hat, Abtreibung als unvereinbar mit dem Gottesgesetz anzusehen. Der "Große Katechismus", eine Sammlung der wichtigsten Glaubensvorschriften, den der heutige Papst Benedikt XVI noch in seiner Zeit als Vorsitzender der päpstlichen Glaubenskongregation erstellt hatte, betont ausdrücklich den Vorrang der Zehn Gebote vor weltlichen Rechtssetzungen - Moses Vermächtnis wirkt bis in die jüngste Moderne. Im Unterschied zu den Imamen versucht der Vatikan nur weitaus pragmatischer die Übereinstimmung von Staats- mit Gottesrecht durchzusetzen.
Der säkulare Staat, so muss man aus Grafs Schrift folgern, tut sich um so schwerer, solche außerweltlichen Ansprüche abzuwehren, so lange auch er sich mit christlichen Traditionsresten zu legitimieren versucht. Dass die USA, die Heimstatt der Religionsflüchtlinge und Pilgerväter sich qua Verfassung als religiöser Staat verstehen, ist vielleicht noch eher nachzuvollziehen als bei der deutschen Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Das Grundgesetz sowie fast alle Landesverfassungen beginnen mit einer Anrufung der "Verantwortung vor Gott". Die Formel mag heute rein kulturell verstanden werden, mehr im Sinne einer Berufung auf ein Erbe denn als eine religiöse Verpflichtung im strengen Sinn. Den vielen Muslimen, die inzwischen in unserem Staat leben, muss sie ebenso als sichtbarer Beweis für die Doppelbödigkeit des westlichen Säkularitätscredos gelten wie die von Graf kritisch erwähnte Tatsache, dass das novellierte nordrhein-westfälische Schulgesetz neben der Ordenstracht auch die Kippa als Insignien abendländischer Kultur in der Schule erlaubt, den Schleier aber verbieten will. Über den Karikaturenstreit derzeit lässt sich viel sagen. Doch in den Ausschreitungen einer scheinbaren Vormoderne im Okzident blickt "der Westen" nur in das Auge seiner eigenen Glaubenskonfliktgeschichte. Wer Muslimen ihren Hang zur Theokratie vorwirft, sollte sich erst einmal an die eigene Nase fassen. Muss der amerikanische Präsident seinen Amtseid auf die Bibel schwören? Warum will er in amerikanischen Schulen statt Darwin die Genesis lehren lassen?
Ab diesem Punkt schwächelt Grafs Argumentation etwas. Die religiöse Neutralität, die den säkularen Rechtsstaat konstituiert, sieht er erst dann wirklich gewahrt. wenn dieser darauf verzichtet, Religionen definieren zu wollen. Der eingefleischte Laizist wird ihm nach dieser Logik vielleicht gerade noch bis zu seiner Forderung folgen, das Kopftuchverbot abzulehnen. Womöglich stilisiert es ein "deutungsoffenes" Symbol ja wirklich erst zum Gotteszeichen. Womöglich sollte man wirklich symbolische "Integrationsangebote" machen, die den Eindruck widerlegen, der säkulare Rechtsstaat sei nur die Kulisse für einen "tendenzchristlichen Konfessionsstaat". Graf selbst ist sich unsicher. In der Schule will er das Kopftuch zulassen, bei Polizei und Gericht aber nicht. Aber müsste der Staat nicht, bevor er seine religiöse Neutralität durch Toleranz beweist, erst einmal bei der löchrigen Trennung von Kirche und Staat, die Graf so eloquent belegt, Konsequenz beweisen?
Auch eine andere Idee des Münchener Religionswissenschaftlers dürfte angesichts der vehementen Ausgrenzungsrhetorik - nicht nur Muslimen gegenüber - zumindest derzeit wenig Chancen haben: Graf tritt für eine "Kultur des artikulierten Religionsdissenses" ein. Seiner Diagnose, dass sich der fast jeder Religion immanente Moralterror dann am besten entschärft, wenn sie sich dem freien Diskurs mit anderen Religionen aussetzen muss, lässt sich kaum widersprechen. Diese Diskursutopie setzt aber eine Gesellschaft entspannter Liberalität voraus, in der die Religionen auch bereit sind, sich wechselseitig kritisch hinterfragen zu lassen. Davon sind wir weit entfernt. Auf lange Sicht eröffnet Grafs Verteidigung der Religionsfreiheit aber auch hartgesottenen Atheisten lukrative Perspektiven. Relativieren durch Partikularisieren heißt das nämlich im Kern. Das Erstaunlichste an diesem Vorschlag ist: Er kommt von einem Theologen.
Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und irdische Gesetze. Beck, München 2005, 100 S., 12 EUR
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