"So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen". Es ist einer dieser Sätze, die einen gelegentlich schwindeln machen bei der Lektüre von Wir nennen es Arbeit. Wer kennt das Gefühl existentiellen Unbehagens nicht, wenn er sich morgens auf den Weg zur Arbeit macht, während andere ins Cafe schlendern. Soll man sich einreihen in die lockere Bruderschaft der konzentriert Schweigenden, die da hinter aufgeklappten Laptops sitzt und am Latte Macchiato nippt, das Gesicht überzogen vom silbernen Schimmer des Bildschirms?
Was die "digitale Bohème" genau ist, kann man nach der Lektüre des Buches der beiden Berliner Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo nicht so ganz genau sagen. Es wimmelt nur so von vagen Definitionen zwischen Soziologie und Mythos. Mal ist sie eine besonders findige Unterabteilung der "kreativen Klasse" des amerikanischen Soziologen Richard Florida, mal eine Art antihierarchische Cyberguerilla, die in die Unternehmen einsickert, mal eine lockere Seilschaft von guten Freunden, die sich lukrative Aufträge zuschanzen. Immerhin weiß man, was sie machen: Sie haben einen ungeliebten Brotjob, der ihnen erlaubt, tagelang im Internet zu hängen, wo sie an verrückten Projekten basteln und sie sind happy dabei: "Wir müssen uns den digitalen Bohème-Unternehmer als glücklichen Menschen darstellen", freuen sich Friebe und Lobo.
Nun wäre selbst gegen eine technikeuphorische Bewegung, die die "Idee von einem besseren Leben" wie einen "hochansteckenden Virus" verbreiten will, nichts einzuwenden. Und was gäben wir für ein Leben in "Gemeinschaft, Kreativität und Selbstbestimmtheit". Zieht man von dem manifestartigen Traktat die demonstrative Euphorie ab, mit der sie das "Leben jenseits der Festanstellung" propagieren, dann scheinen die zwei Netzjournalisten, Betreiber der "Zentralen Intelligenz Agentur" und des Webmagazins Riesenmaschine, das Ende der Ausbeutung durch einen beherzten Sprung in die Selbstausbeutung erreichen zu wollen. Jedenfalls steht ihr Rat im Raum, das Großraumbüro zu verlassen und sich als Ich-AG ins Netz zu verkrümeln. Irgendwann, so glauben sie, kommt schon der große Durchbruch.
Das Buch hat da seine Stärken, wo es ganz ohne digitalphilosophischen Überbau detailliert den Funktionswandel des Internets beschreibt: Die Möglichkeiten der Generierung von Inhalten und der grenzüberschreitenden Kontakte auf Kommunikationsplattformen wie YouTube und MySpace, das weltweit boomende Weblogging als diskursive Gegenmacht. Und natürlich können Friebe und Lobo von der Internet-Band Arctic Monkeys bis zur Internet-Filmproduktion Star Wreck prototypische Erfolgsmodelle der digitalen Bohème, so genannte "Minipreneurs" vorführen, die auch schon mal den großen Konzernen ein Schnippchen geschlagen haben. Mit low-budget und give-aways haben sie einen überraschenden Erfolg erzielt. In Beispielen wie diesen mag sich vielleicht auch eine erstaunliche "Privatisierung der Produktionsmittel" ausdrücken. Doch wo darin die ganz große Revolution stecken soll, wird nicht recht klar. Nur von kostenlosen Downloads werden die Arctic Monkeys auf Dauer nicht leben können.
Bezeichnenderweise führen Friebe und Lobo als Beispiel für die scheinbar unwahrscheinlichen Projekte, die man hartnäckig verfolgen soll, die "MillionDollarHomePage" an. Der 21jährige Student Alex Tew hatte darauf eine Million Pixel gesetzt, die Interessenten für einen Dollar als Werbefläche kaufen konnten. Mit der einen Million Dollar, die er dann auch tatsächlich einnahm, konnte er sein Studium finanzieren. Das ist zwar ein schönes Beispiel dafür, wie man die Aufmerksamkeitsströme, die das Internet durchziehen, ausnutzen kann. Doch spätestens hier wird die Charakterisierung von der "Grenze zur Konzeptkunst", mit der Friebe und Lobo ihre selbst gebastelte Bohème adeln wollen, fragwürdig. Wenn sie dann jubilieren: "Die digitale Bohème hat mit dem Netz einen Raum erobert, der Vermarktungsmöglichkeiten noch so abseitiger Produkte und Dienstleistungen eröffnet", wird klar, dass es doch mehr um eine Modernisierung des Kapitalismus und seiner Vertriebs- und Absatzwege zu gehen scheint. Und was soll man von einem revolutionären Subjekt halten, das ein "prosperierendes wirtschaftliches Hinterland" braucht, weil es sonst "einpacken" kann.
Auch die gesellschaftliche Reichweite des Bohème-Modells bleibt vage. Einerseits wird die neue Form der selbstbestimmten, mediengestützten Arbeit als Perspektive für alle angepriesen, die sich immer mehr ausbreite. Die Eintrittskarte in das neue Reich der großen Freiheit ist inzwischen erschwinglich für Viele: Der Wireless Lan-fähige Laptop. Und der Latte Macchiato im Bohème-Treff, dem Cafe St. Oberholz am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte, macht niemand arm. Friebe und Lobo konfrontieren die großen Konzerne sogar mit dem umstürzlerischen Ruf nach "DSL für alle". Andererseits geben die Protagonisten selbst zu, die digitale Bohème sei "kein Gesellschaftsmodell, sondern ein Lebens- und Arbeitsmodell für einen Teil der Gesellschaft".
Denn auch für diese happy few ist der Sprung ins Bohème-Leben ein Vabanquespiel. Mit Formulierungen wie "Durststrecke" verbrämen sie ihr Wissen darum, dass derjenige, der Pech mit seinen verrückten Projekten hat, am Ende doch bloß in Henri Murgers guter alter "Elendsbohème" landet. Von den psychologischen Folgekosten ganz zu schweigen. Wenn die Grenzen zwischen Leben und Arbeit verschwimmen, wenn plötzlich alles Arbeit ist, wenn jede Freundschaft zur potentiellen Ressource für den digitalen Unternehmer, ein Knoten im Business-Netzwerk wird, wo bleibt bei dieser totalen Ökonomisierung des Lebens das bessere Leben?
Immerhin der Tatbestand einer künstlerisch motivierten Subkultur scheint erfüllt. An einer Stelle des Buches werden sogar einmal Vermutungen über "die signifikante Korrelation von Bohème- und Homosexuellendichte" angestellt. Freilich vermisst man die ästhetische Selbststilisierung. Trotz cooler T-Shirts: Wirklich exzentrisch wirkt eine Vorzeige-Vertreterin der digitalen Bohème wie die 1970 geborene Webdesignerin und Schriftstellerin Kathrin Passig nicht. Selbst wenn man Prototypen der Bohème wie Oscar Wilde oder Charles Baudelaire mit betonter Coolness und Undercovermanieren als überholte Klamottenfiguren entlarven möchte. Die lustigen Coups der digitalen Bohème verdichten sich kaum zu einem (nicht verwertbaren) Akt symbolischer Aggression gegen bürgerliche Ordnung und Milieu. Kaum hatte Passig in diesem Sommer das Klagenfurter Wettlesen mit ihrem strategisch auf das Bachmann-Ritual am Wörthersee zugeschnittenen Text Sie befinden sich hier "unterwandert", wechselte sie vom subversiven Verbrecher- zum lukrativen Rowohlt-Verlag.
Trotz Anzeichen symbolischer Dissidenz und rhetorischer Frontstellung gegen Bourgeoisie und Neoliberalismus scheint die digitale Bohème also eher das bürgerliche Ding erst so richtig ans Laufen bringen zu wollen. Selbst die "ironische Firma" der "Zentralen Intelligenz Agentur" ist nicht das irritierende Kunstwerk, das der Titel zu versprechen scheint. Dahinter verbirgt sich ein lustiger Zwitter zwischen Konzeptkunst, Wundertüte und Dienstleistungsagentur, in der aus Überlebensgründen schon mal Werbetexte für BMW das Licht der Welt erblicken. Nicht, dass wir etwas gegen unbekümmerte, phantasievolle Medienhandwerker hätten, die auf die altlinke Furcht vor Technik und Kulturindustrie pfeifen: Bohème scheint einfach das falsche Wort für das Milieu der kreativen Technoromancer zu sein, die sich da aus dem Umbruch der Produktivkräfte herausmendeln. Nennen wir sie doch einfach die Spontis der Digitalisierung.
Holm Friebe, Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Heyne, München 2006, 304 S., 17,95 EUR
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