Ein Leben ohne Gewalt

Reise nach Osten Das abenteuerliche Debüt des Jonathan Safran Foer »Alles ist erleuchtet« illuminiert den Riss in der Erinnerungskultur

Taugt der Holocaust zum Selbstversuch? Darf er zum Spiegel der Identitätssuche, zu ihrem Spielmaterial werden? Die Frage drängt sich bei Jonathan Safran Foers Debütroman Alles ist erleuchtet unwillkürlich zu allererst auf. Selbst wenn man der Meinung ist, dass der Massenmord an den ukrainischen Juden im Sommer 1941, auf die diese außergewöhnliche Reisegeschichte hinsteuert, gar nicht im Mittelpunkt des Buches steht. Denn der 1977 geborene Foer macht erst gar keine Anstalten, den Helden seines Buches zu maskieren. Der junge Amerikaner, der Ender neunziger Jahre in die Ukraine reist, um eine Frau zu finden, die seinen von dort stammenden jüdischen Großvater vor den Nazis gerettet hat, heißt Jonathan Safran Foer.

Dass hier ein höchst privates Moment des Autors eine stoffentscheidende Rolle spielt, erklärt der junge Foer, der in Princeton Philosophie und bei Joyce Carol Oates Literatur studiert hat, jedem der es hören will. Wie sein Held unternahm er eine Reise in die Ukraine um die besagte Frau zu finden, die im Buch Augustine heißt. Und kehrte mit leeren Händen zurück. Mit sich selbst als Spiegel im Roman, findet Foer, der mit seinem Erstling in Amerika über Nacht zu einem Star wurde, erhöhe sich der Druck, eine wirklich gute Geschichte zu kreieren. Ein Held gleichen Namens soll auch in seinem nächsten Buch die Hauptrolle spielen. Sein Bekenntnis zu einer so rigide an das eigene Subjekt geketteten Literatur sieht man mit Sorge. Doch warum nimmt man sie ihm nicht übel? Weil das kunstvolle Konstrukt, das bei der Bewältigung dieer Erfahrung herausgekommen ist, die Untiefen der Erinnerungsarbeit exemplarisch deutlich macht.

Schon der erste Satz des zweiten Kapitels ist eine Provokation: »Am 18. März 1791 drückte Trachim B.´s doppelachsiger Wagen seinen Besitzer auf den Grund des Flusses Brod oder auch nicht.« In den Kapiteln, in denen sich der Romanheld Jonathan daran macht, die Familiengeschichte seiner Vorfahren in dem jüdischen Schtetl Trachimbrod auf der Grenze zwischen Polen und der Ukraine mit einem zum Mythos erhobenen, mysteriösen Unfall zu erfinden, bei dem ein Waisenkind aus dem Fluss gerettet wird, wird der Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser und jeder Erinnerung gesät, die mit dem Anspruch auf historische Genauigkeit daher kommt. Nichts ist sicher! Was ist real? Doch mit dem Pochen auf Authentizität wird man diesem Buch nicht beikommen können. Alle Erinnerung ist Konstruktion aus den Bedürfnissen der Gegenwart. Selbst Daniel Libeskinds jüdisches Museum in Berlin ist ein genial verschachteltes Kunstwerk, das hart an der Grenze zu dem unangereicherten Respekt operiert, der den Toten zukommt.

Die fiktive Geschichte beginnt bei Foer in der Vergangenheit, die berichtete in der Gegenwart. Beide bewegen sich aufeinander zu. Foer konterkariert Jonathans Fiktionen nämlich mit den Beschreibungen dieser verrückten Reise aus der Sicht des jungen Russen Alex Perchow, der zweiten Stimme dieses Romans. Der dient dem vergangenheitssuchenden Amerikaner samt einem blinden Großvater und einem Köter namens Sammy Davis Jr. Jr. als Führer. Der aufschneiderische Guide einer »Heritage Foundation«, der darauf steht, »sehr viel Geld in berühmten Nachtclubs in Odessa zu verbreiten«, zeichnet mit seinem halsbrecherischen Englisch nicht nur ein ironisches Bild der Tristesse in der postkommunistischen Ukraine. So wie er Jonathans erfundene Familiengeschichte in Briefen nachträglich erst höhnisch, dann immer einfühlsamer kommentiert, markiert er die Gegenseite: den Beobachter, der die Fiktion bricht. Wie überhaupt ein beherrschendes Motiv dieses Romans das Motiv der Spaltung ist. Nicht nur die Erinnerung ist ein Januskopf aus Fiktion und Bericht. Mit einem Schtetl, das zwischen »Aufrechten« und »Wanklern« gespalten ist und einem Sägeblatt, das einem der Vorfahren des Großvaters in den Kopf getrieben wird, markiert der Autor Foer seine Erkenntnis von den zwei Hälften, in die sich alles scheidet - ein Selbstversuch mit frappierendem Ausgang.

Ist Foers Symbol für die nicht endende Baustelle der Erinnerungsarbeit deshalb der »Sieg des Stils über die Substanz«, wie ein amerikanischer Leser in einer Internetdiskussion genervt resümierte? Seine barocke Fabulierkunst ließe sich mit dem magischen Realismus vergleichen, in den die deutsche Autorin Kathrin Schmidt deutsche Familiengeschichte wie in ein fiktionales Zauberbad taucht. In dessen verschwimmenden Konturen sieht man die Realität jedoch oft genauer als wenn man sie akribischen reproduziert. Foer spielt mit überbordendem Humor, atemberaubenden Bildern jiddischer Folklore und einer Respektlosigkeit, bei der Thorarollen und Cunnilingus in einem Atemzug genannt werden. Doch der geht genau an der Stelle in den Schrecken ohne Punkt und Komma über, an dem die deutsche Armee die Juden auf den Plätzen in den kleinen Schtetln des Ostens zusammenpfercht und ihr Gemetzel startet.

Dass sich ein junger Amerikaner zu einem geschichtlichen Zeitpunkt, an dem die kollektive Psyche seines Landes keinerlei Selbstzweifel mehr zuzulassen scheint, seiner gespaltenen Identität bewusst wird, wird man als willkommenes Nebenprodukt dieses Schreibversuchs verbuchen können. Foers Buch ist die Geschichte einer Annäherung zwischen zwei Welten. Ein Amerikaner und ein Ukrainer schließen sich zu einem losen Joint Venture zusammen. Alex glaubt zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Jonathan noch, dass Juden »Scheiße hinter den Ohren haben.« Dann lernen sie einander verstehen und entdecken überraschende gemeinsame Wurzeln. Und ein ganz anderer Großvater als der, um den es am Anfang ging, bekennt sich zu seiner aus dem Nebel der Vergangenheit aufgetauchten Verantwortung und entschließt sich zu einem dramatischen Schritt für ein »Leben ohne Gewalt« der Nachgeborenen.

Foers Roman ist ein bewundernswert komplexer Roman. Das Produkt seiner »idea of a book ... something other than books« kann man als bemerkenswerten Gegenentwurf zu Jonathan (!) Franzens Korrekturen lesen. So gewitzt und souverän Foer die dort ziemlich bruchlos rehabilierte und langatmig ausgewalzte Linearität unterläuft, ohne dass das sinnliche Erzählen leidet, buchen wir sein Werk als Punktgewinn der Moderne gegen das neue Biedermeier. Doch mehr als all das zusammen ist Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet das typische Produkt einer Erinnerungskultur im Wandel und im Umbruch der Generationen. Je mehr die Zeitzeugen aussterben, je spärlicher die authentischen Überreste gestreut sind, desto weniger wird sich die Erinnerung aus dem Zwiespalt zwischen Fakt und Fiktion befreien können. Nicht umsonst hat man dem immer noch ungebauten Holocaust-Mahnmal in Berlins Mitte ein Informationszentrum untergeschoben, als die Diskussion, ob man den Genozid mit Peter Eisenmans Stelenwald ästhetisieren dürfe, in eine Sackgasse geraten war. Der nachgeborene Foer tanzt mit Witz und Ernst auf dieser Wegscheide der Erinnerung. Sein fulminanter Erstling ist nicht das erste ästhetische Produkt, das diesen Wandel ausdrückt. Es wird nicht das letzte bleiben. Man wird sich an diesen Balanceakt gewöhnen müssen.

Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet. Roman. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Kiepenheuer, Köln 2003, 384 S., 22,90 EUR

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