Erwartung

Fettig Literarisches Leben in Berlin

Am Berliner Wannsee ist der Westen noch in Ordnung. Ruhig liegt der See, der Himmel strahlt blau, das friedliche Bürgertum strebt von den Samstagseinkäufen zurück in seine Villen. Kindesmord am Wannsee? Unvorstellbar. Ein paar Segelboote ziehen unbeirrt ihre Bahn. Wenn man am Ufer steht und den Blick melancholisch auf die andere Seite des Sees schweifen lässt, spürt man: Ein anderes Leben ist denkbar.

Doch statt direkt dorthin zu segeln, absolviert man dann doch jeden August, den der Literaturgott werden lässt, einen Pflichttermin des "Literarischen Lebens", für den die Idylle im Berliner Süden den Hintergrund abgibt: das Sommerfest der Literarischen Colloquiums, kurz LCB. Wer das stolze Patrizierhaus mit Aussichtsturm und Wetterfahne betritt, hofft ja auch auf das ganz andere Leben jenseits des grauen Alltags, ja am liebsten will er natürlich den magischen Moment selbst erleben, in dem die Kunst ins Leben tritt. Meist sitzt man dann aber nur vor einem verbröselten Literaten mit seinem Buch und einem Glas Wasser, der den Mund nicht recht aufkriegt.

Die Lesung, diese Schwundform des ästhetischen Erlebnisses, ist beim LCB-Fest nicht ganz so trist inszeniert wie sonst, sondern inmitten eines fröhlichen Parcours aus Würstchenbuden und Kuchenständen wie beim Stadtteilfest. Man trifft die üblichen Szenegänger: Enthusiastische Leser, abgebrühte Kritiker, scheue Autoren und den ewig gut aufgelegten Hausherrn im hellen Sommeranzug. Kurzum: free floatet der ganz normale literarische Beziehungstourismus: man kennt sich, schätzt sich nicht immer, aber lächelt eben mit: Hallo, Herr Politycki!

Als Literaturhäuser wie das LCB noch die Programmhoheit im eigenen Haus hatten, boten die Sommerfeste ein richtig gutes Programm. Doch seit die Verlage dem verarmten Haus das Fest sponsoren, ist es eine verkappte Verkaufsmesse. Trotzdem lohnt sich manchmal das Zuhören. Als Hoffmann Campe-Autor Ulrich Woelk vergangenes Wochenende auf der Terrasse aus seinem neuen Roman Die Einsamkeit des Astronomen eine schwülstige Liebesgeschichte zum Besten gibt, in der die Protagonisten süchtig nach den "Ausdünstungen des Lebens" sind, erleichterte das die Entscheidung, die wir schon ein paar Tage vor uns herschoben. Dieses Buch muss man nicht lesen.

Auch in der zweiten Form des Literarischen Lebens, dem so genannten Salon, kann sich der ästhetische Mehrwert sehen lassen. Wo sonst, wenn nicht in der fettigen Halböffentlichkeit des Büffets, während man nach Lachsschnittchen und frischen Erdbeeren angelt, sollte man sonst erfahren, dass der biographiegestählte Kritikerkollege schon am nächsten Buch sitzt. Oder die Kollegin aus Frankfurt nach Hamburg wechselt. In allzu tiefgründige Diskurse, etwa mit dem Autor, verwickelt man sich in den holzgetäfelten Bürgerwohnungen in Wilmersdorf oder Charlottenburg, die sich einem zu solch handverlesenen Soirees öffnen, besser nicht. Hinterher kommt raus, dass man das Buch nicht gelesen hat. Hier wird zu allererst um Aufmerksamkeit gebuhlt. Wenn genügend Wein geflossen ist, wandeln sich die unausgesprochenen Erwartungen, die in solchen Räume so tief hängen wie die Nikotinschwaden, plötzlich in offenbare: "Die Rezensionen müssen auf einen Schlag kommen, nicht so tröpfchenweise" ließ eine übermütige Verlegerin ihre Gäste vorvergangene Woche wissen. Schließlich ist bald Buchmesse. Und wenn ihr hier schon auf meine Kosten mampft ...

Über Politik spricht man nicht so gerne im Literarischen Leben. Der schizophrene Spleen von Günter Grass, alle zwei Jahre aus der SPD auszutreten und dann die Blechtrommel für Gerhard Schröder zu rühren, juckte am Wannsee keinen. Sich Einmischen hieß hier: Gesehen werden. Das ist einerseits empörend unpolitisch. Andererseits: Besteht nicht die eigentliche Einmischung der Kunst darin, dass sie ein Leben ändert? "Ich wäre vielleicht niemals Musiker geworden ohne Bob Dylan" leitete Wolfgang Niedecken seine Lesung aus den Tagebüchern seines Idols ein. Im Grass´schen Wahlkontor hat diese folgenschwere Begegnung sicher nicht stattgefunden.

Beim Sommerfest verhält sich das literarische zum realen Leben wie ein Familiengeburtstag zum Rave. Spätestens wenn die Musik wie die Sommerdisco in Klagenfurt klingt und unbekannte Buchhändlerinnen verführerisch zu wippen beginnen, ist es Zeit zu flüchten. Wir empfehlen Kreuzberg: Das Kottbusser Tor beispielsweise bevölkern Tag und Nacht jede Menge unentdeckte Asphaltliteraten. Kein Wunder, dass sich jeden Dienstag hier die Jungverleger von den Verbrechern treffen. Im rauschgeschwängerten Möbel Olfe kann man erleichtert durchatmen. Es geht eben nichts über die wirklichen "Ausdünstungen des Lebens".


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