Vereinigte Staaten von Europa. 1851 wurde Victor Hugo noch ausgelacht. Knapp hundert Jahre später schien der Slogan das Motto der Stunde. Ein einziges, einiges Europa schien die beste Versicherung gegen Krieg und Diktatoren von Napoleon bis Hitler. Als 1989 die Mauer fiel, schien das Konzept zum Greifen nah, das Winston Churchill 1946 aus der Mottenkiste der politischen Utopien gezogen hatte. Doch die Verfassungsreferenden im Westen und die Vorbehalte gegen einen Zentralstaat im Osten sind nur zwei Seiten derselben Medaille wachsender Zweifel an dem zerstrittenen Handelsbund auf dem Sprung zur Weltmacht.
Begeisterung scheint diese positive Utopie auch bei einer Generation nicht mehr auszulösen, bei der man sie noch am ehesten vermutet hätte. In seinem Roman City: Der unwahrscheinlichste aller Orte lässt der junge slowakische Schriftsteller Michal Hvorecky den guten alten Kontinent zu einem "Supereuropa" mutieren. Zwar ist seine Hauptstadt City ein "Schmelztiegel der Nationalitäten und Rassen". Richtig einladend ist die Ansammlung aus uniformen Stadtteilen aber nicht. Die Autos in dieser Metropole gleichen einer "Kreuzung aus Panzer und Mobiltelefonen". Und dass sie in Deutschland liegt, sagt etwas aus darüber, wie die Machtverhältnisse in Europa eingeschätzt werden.
Mit dieser Skepsis ist der 1978 geborene Musikpublizist und Autor nicht allein. Eine neue Generation von Autoren hat die Nase voll davon, ein untergegangenes Arkadien zu beweinen, das angestaubte "Mitteleuropa" der Dissidenten zu suchen oder noch einmal die Narben des Blockzeitalters zu zeigen. Doch statt Nach Europa! heißt das neue Programm: Distanz zum (westlichen) Kerneuropa. Juri Andruchowytsch aus der Ukraine oder sein polnischer Freund Andrzej Stasiuk justieren Europa neu von seinen vergessenen Rändern im Osten und den schmutzigen Dörfern abseits der Metropolen. Der noch einmal fast zwanzig Jahre jüngere Michal Hvorecky nimmt seine innere Kolonisierung aufs Korn.
Dieses Supereuropa des Jahres 2025, in das sein Held und Ich-Erzähler, der Fotograf Irvin Minsky kommt, ist ein seltsames Land. Die Menschen dort heißen nicht mehr Gabor oder Ulrike, sondern Gucci oder Nivea. Hier klingt Hvorecky wie der literarische Wiederkäuer von Naomi Kleins Attacke gegen die Global Players. Doch der scheinbar plakative Gag speist sich aus der Erfahrung der totalen Kommerzialisierung nach dem Ende des Sozialismus. Manchmal, so Hvorecky einmal über den Identitätsbruch in seiner Heimat, habe man in dem "Outsourcing-Paradies" Slowakei nicht recht unterscheiden können, ob es ein Land oder eine Handelsgesellschaft gewesen sei. Wer im übrigen die deutschen Radsportler unter dem Banner "T-Mobile-Team" strampeln sieht, wird Hvoreckys Idee auch nicht so ganz daneben finden.
Wir merken schon: Mit irgendwelchen raffinierten alteuropäischen Erzählweisen gibt sich Hvorecky nicht ab. Den slowakischen Faust haben wir auch nicht erwartet von einem Mann, der als Geburtsort "eine weit entfernte Galaxie" angibt. Wer als Kind am liebsten Bücher "mit quietschbunten Covern (und) unglaublichen Monstern" las und vom Werbetexter zum "fünftsexiesten Mann" seines Landes aufstieg, dem leuchten Fantasy und Trash als ästhetische Fixsterne.
Jahrelang war nun also Hvoreckys Minsky durch die verarmten Länder an der Peripherie Supereuropas gereist, um sich von einer Krankheit zu befreien: Die Sucht nach Internetpornographie. "Eine einzige Website veränderte mein Leben" erinnert sich der Flüchtling an das Initiationserlebnis im Internat. Auch in diesem Bild verarbeitet der slowakische Autor etwas von dem Freiheitsschock der Jahre nach 89, in denen Waren, Werbung und neue Medien über ein Land der limitierten Möglichkeiten hereinbrachen. Wie schnell die große Freiheit aber zur großen Abhängigkeit wird, zeigt sich daran, dass Hvorecky seinen Minsky zum asozialen Netzjunkie verkommen lässt. Kaum erblickt der frisch Genesene in seinem Hotelzimmer in City den Bildschirm eines Laptops, erwacht der blinde Trieb von neuem. Bis ihm in den Armen der geheimnisvollen Prostituierten Lina Lee alias Erika Erotic?ka ein schmerzensreicher Entzug gelingt.
Hvorecky hat in City schon erkennbar Mühe, so unterschiedliche Motive wie sexuellen Missbrauch, Sucht und eine Künstlergeschichte überzeugend zu verknüpfen. Er hegt aber auch noch Ambitionen in Richtung Cyperpunk: In einer immer dystopischeren Szenerie lässt er seinen Protagonisten unter der übermächtigen Technik ächzen, in deren Einfluss er steht: "Das ganze Leben lang hatte ich mir Kopien aus dem Netz herunter geladen, die vorher schon jemand aus anderen Kopien angefertigt hatte. Und ich selbst war ein Plagiat, das nahezu gegen den Willen seiner Schöpfer in Umlauf geraten war" resigniert schließlich Minsky, den seine Eltern nur als Ersatz des gleichnamigen toten Bruders liebten.
Zum krönenden Abschluss wird dieser schillernde Texte zu einem Science-Fiction, genregemäß mit einem Bild der Störung der natürlichen Ordnung: Nach einem Stromausfall lieben sich die Menschen in City, live, auf offener Straße und sprechen sich wieder mit ihren alten Namen an. Eine "Welt ohne Strom" erscheint Minsky plötzlich als Ausweg aus der Sucht. Doch als sich der Keim einer Anti-Netz-Revolte als Reality-Cinema entpuppt, wird der reale Moloch City plötzlich, was der Untertitel verspricht: Der unwahrscheinlichste aller Orte. Schleunigst kehrt unser Held der Welt, in der Schein und Sein nicht mehr zu trennen sind, den Rücken und wechselt "an der östlichen Grenze Supereuropas" von der Ersten zurück in die Dritte Welt.
Heimkehr ins Reale, Rückkehr zu den Körpern, Rettung durch die Liebe. Spätestens wenn Minsky "Pläne zur definitiven Heilung" schmiedet, entpuppt sich die schrille Vision vom Beginn des 21. als problematische Reinigungsphantasie vom Beginn des 20. Jahrhunderts: "Ich werde dorthin zurückgehen, wo die Gesetze unserer Zivilisation vorläufig nicht gelten. Ich werde den letzten Zufluchtsort finden. Den weißen Fleck auf der Landkarte. Ich werde meine Festplatte im Gehirn umformatieren. Und von ihr alle Erinnerungen löschen. Neustart des Systems". In Gestalt des Netz-Desperados Irvin Minsky meldet sich, nach dem französischen "Philosophen" Camille de Toledo (Freitag 48/2005) ein weiterer Ritter der Romantischen Revolution zu Wort, die zum Sturm gegen die entfesselte Postmoderne bläst - diesmal aus dem Osten. Michael Hvorecky artikuliert die Ernüchterung einer Generation über die Glücksversprechen des Epochenbruchs. Man muss den regressiven Subtext seines Romans nicht goutieren. Aber nachdenklich macht die Botschaft schon: Wenn die große Utopie sich in Technik, Konsum und Konzernen erschöpft, dann hauen wir eben ab aus den Vereinigten Staaten von Europa.
Michal Hvorecky: City. Der unwahrscheinlichste aller Orte. Roman. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen, Berlin, 282 S., 19,80 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.