Haben Sie eine Waffe?

Die Reise nach Jerusalem Auf der 21. Internationalen Buchmesse in Jerusalem zwischen allen Fronten

"Jerusalem" schrieb einst der Schriftsteller Hermann Melville, Schöpfer des Moby Dick, als er 1860 das "Heilige Land" bereiste, "wird von einem Heer von Toten belagert". Wohl kaum eine andere Stadt der Welt hat so viele Eroberungen und Schlachten über sich ergehen lassen und provoziert. Wohl kaum eine Stadt zieht so viele Projektionen auf sich wie dieser Ursprungsort dreier monotheistischer Religionen - politische wie mytische. Noch Pier Paolo Pasolini suchte, als er gut hundert Jahre später nach Palästina kam, ein sozialromantisches Surrogat für die Bibel seiner Kindheit, fand aber, wie er klagte, ein "Wrack". Ganz so schlimm ist es nicht mehr. Anders als das ausgelassene und buntscheckige Tel Aviv reizt Jerusalem mit einer ästhetischen Formstrenge, die Geschichte gleichsam konserviert. Noch heute muss sich jeder, auch das Crown Plaza Hotel, an eine Bauvorschrift aus der britischen Mandatszeit halten und alle Fassaden aus dem Felsgestein aus dem hellem Ocker der Berggegend bauen, das schon König Salomon für seinen ersten Tempel benutzte. 140 Jahre nach Melvilles Besuch ist Jerusalem noch immer eine mythische Kapitale. Auch wenn hier inzwischen so profane Dinge wie ein CSD stattfinden. Auch der Geruch des Todes liegt noch immer in der Luft. Gasmasken, wie die, die ich während des Golfkriegs 1990 auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv überreicht bekam, gibt es zwar keine, wenn man heute in das Heilige Land kommt. Doch die Angst fährt mit nach Israel in diesen Tagen. Schon der Reisewecker, den der Nachbar im Neshet-Sammeltaxi aus der Tasche zieht, weckt Assoziationen.

Kein Wunder also, dass auch die 21. Jerusalemer Buchmesse unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen stattfand. Auf einem staubigen Hügel am westlichen Stadtrand, wo Jerusalem ins steinige Bergland auswuchert, steht zwischen Ausfallstraßen und Trümmergrundstücken ein riesiges Kongress-Zentrum, das mit seiner verspiegelten Fassade wie der Berliner Palast der Republik wirkt. Einen Hügel tiefer liegt in Sichtweite die Knesset, jener weltbekannte Flachbungalow mit Fenstern wie Schießscharten, hermetisch abgeriegelt und von Stacheldraht umgeben. Überall patrouilliert die Armee. Auch der Buchmessenpalast war von Sicherheitskräften umzingelt. "May I have your ID, Sir?" lautete die Standardbegrüßung jeden Morgen. Fotografieren ist verdächtig. In jedem Cafe, selbst bei McDonalds werden in Israel zu jeder Tages- und Nachtzeit die Taschen durchsucht. Und als ich zur Verleihung des "Jerusalem-Preises" der Buchmesse das neu gebaute Rathaus betrat, empfing mich eine charmante Aufseherin mit dem Standardsatz in Israel: "Haben Sie eine Waffe?"

Keine unberechtigte Frage. Denn Waffen hat dieses Land genug, wie man an den Trupps blutjunger Soldaten mit schicken Sonnenbrillen sehen kann, die an jeder Bushaltestelle ihr Armeegewehr so lässig über die Schulter geworfen haben, wie in Europa Abiturienten ihre Tennisschläger. Instrumente friedlicher Konfliktlösung sind dagegen gut versteckt. Und dass die alle zwei Jahre stattfindende Buchmesse dieses Forum sein könnte, das die Kultur so gern für sich in Anspruch nimmt und die Politik nicht zustande bringt, konnte man - zumindest in diesem Jahr - leider nicht behaupten. Zwei Tage vor dem Beginn der Buchmesse ließ die Regierung von Ariel Sharon als Antwort auf das Selbstmordattentat auf einen Jerusalemer Bus und einen jüdischen Siedler den Hamas-Führer Kawamseh durch einen gezielten Todesschuss umbringen. Die Buchmesse ebnete zwar oft den Weg zu guter Nachbarschaft: Deutsche Verlage waren hier schon vertreten, als die Bundesrepublik und Israel noch keine Beziehungen unterhielten. Aber man braucht schon viel Überwindung, um unter solchen Bedingungen an die Friedensmacht der Literatur zu glauben.

1963 auf eine Initiative der Kulturabteilung der damals noch alles beherrschenden israelischen Gewerkschaft Histadrut gegründet, ist die Jerusalem International Book Fair seit Beginn der achtziger Jahre so etwas wie das Lebenswerk des 1926 in Kaunas geborenen Juden Zev Birger, der 1947 nach Haifa emigrierte. Ein Staat, der die Schriftrollen aus Qumran vom Toten Meer in einem runden, weißen Schrein direkt neben dem Parlament wie ein Staatsheiligtum aufbahrt, muss natürlich auch eine Buchmesse haben. Jerusalem ist die Stadt des Buches der Bücher. Zu Beginn der sechziger Jahre wollten die Gründerväter der Jerusalem International Book Fair dem jungen Staat eine kulturelle Legitimation verschaffen und für den Kulturaustausch mit dem Rest der Welt sorgen. Heute ist Israel zumindest ein Leseland. 220 Verlage verkaufen heute 40 Millionen Bücher in einem Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern. Mit 4.000 Titeln im letzten Jahr liegt Israel hinter Island an zweiter Stelle der Weltrangliste der Bücher pro Kopf der Bevölkerung.

Doch dass der Buchmesse der internationale Austausch in diesem Jahr leider kaum geglückt ist, darüber konnten auch die 600 Verlage aus über 20 Ländern nicht hinwegtäuschen, die die Messeleitung stolz vermeldete. Ein Drittel Aussteller und prominente Besucher weniger als vor zwei Jahren kamen diesmal nach Jerusalem. Man war schon froh,, dass sie überhaupt stattfinden konnte. Apropos international: Bei der bescheidenen Eröffnungszeremonie sprachen alle englisch - von Israels Vizepremier Ehud Olmert vom regierenden Likud bis zum Gastredner Aaron Appelfeld. Nur Jerusalems neu gewählter Bürgermeister, Uri Lupoliansky, ließ sich ausschließlich hebräisch vernehmen. Der erste orthodoxe Jude an der Spitze der Stadtverwaltung nach den Jahrzehnten des liberalen, polyglotten Regimes von Teddy Kollek durchwirkte seine Ansprache mit Bibelzitaten über die Bedeutung des Lesens und der Bücher. Die Messe, als Symbol der Öffnung gedacht, geriet zum Beleg einer kulturellen Isolierung und eines kulturellen Machtwechsels. Und aus der Visitenkarte des kollektiven Aufbruchs nach der Staatsgründung ist ein Spiegelbild der postzionistischen Fragmentierung geworden, wie sie sich auch in Israels Gegenwartsliteratur niederschlägt.

Ein Indiz war die massive Präsenz der mit einer Million Menschen inzwischen größten Volksgruppe Israels. Gleich an drei riesigen Ständen zeigten ausschließlich russisch publizierende Verlage in Israel ihr Programm. In manchen Teilen Jerusalems und Tel Avivs hört man immer mehr Menschen nur noch russisch sprechen. Die engsten Nachbarn dagegen, die Araber, lassen sich nach einem kurzen Intermezzo Marokkos und Jordaniens zur Zeit der Osloer Friedensgespräche 1995 nicht mehr in Jerusalem blicken. Nur zwei Verlage, beide israelische, präsentierten arabische Bücher. Unverfängliche Ware meist: Kinderbücher, Kochbücher, Kunstbücher, Wörterbücher. Die Autobiographie Edward Saids war eins der wenigen politischen Signale, gleich daneben stand eine Yitzhak Rabins, des ermordeten israelischen Premiers. Und als waghalsige Draufgabe veröffentlichte der Haifaer Kolbo-Verlag die Erinnerungen eines libanesischen Generals, der mit den Israelis kollaborierte. Doch wer wird das lesen? Auf Arabisch? "It´s a hard business" seufzte sein Verleger verzagt. Er fährt lieber nach Frankfurt.

Der Vergleich mit der Messe aller Messen am Main ist natürlich unfair. Wenn man die Messe in den Bergen im Nahen Osten schon mit einem Highlight des internationalen Literaturbetriebs vergleichen will, dann vielleicht mit Leipzig. Jerusalem sieht sich als Messe der Gespräche und intimen Begegnungen. Auf diese Weise knüpfte der Jüdische Verlag den Kontakt zu einem Jugendfreund Paul Celans in Haifa. Oder der Aufbau-Verlag den Kontakt mit Frank Stern, der an der Universität Be´er Sheva in der Wüste Negev im Center for German Studies lehrt. Für die paar Lizenzen, die in Jerusalem womöglich verschoben werden, reicht die Bar im legendären Hotel "King David", das Israels Ex-Premier Menachem Begin einmal in die Luft jagte, als er noch Terrorist und die Engländer noch Mandatsmacht in Palästina waren.

Wie wenig diese Buchmesse aber wie ihr großer Schatten Frankfurt der intellektuelle Marktplatz des Landes ist, von dem sich Debatten wellenartig ins Land ausbreiten, zeigte die Verleihung des Jerusalem-Preises an den amerikanischen Dramatiker Arthur Miller. In Frankfurt versammelt sich die intellektuelle Elite der Republik in der Paulskirche. In Jerusalem eine Handvoll Unentwegter im sechsten Stock des Jerusalemer Rathauses bei einem Glas Wasser. Die Entscheidung einer unabhängigen Jury, den Preis für "die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft", dem 87-jährigen Autor und Pulitzerpreisträger zuzuerkennen, sieht auf den ersten Blick wie der Versuch aus, das Renommee einer "kleinen aber feinen" (Börsenverein) Messe mit einem weiteren illustren Prominenten zu heben. Vom ersten Preisträger Bertrand Russell 1963 über Simone de Beauvoir bis Stefan Heym reicht die Liste der Altmeister der Weltliteratur, die sich Jerusalem schon ans Portepee steckte.

Doch mit dem Querkopf aus New Yorks Upper East Side ist die Messe genauso wenig auf Nummer Sicher gegangen wie mit Susan Sontag vor zwei Jahren. Zwar wuchs der 1915 geborene Autor in einem jüdischen Elternhaus in New York auf. Und Millers Werk durchzieht die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus wie ein roter Faden. Doch heute sieht sich der Autor, den noch Senator McCarthy wegen kommunistischer Aktivitäten vor seine Komitees zitierte, als Atheist. Lange hatte der Ex-Mann von Marilyn Monroe gezögert, den Preis überhaupt anzunehmen, weil er die israelische Siedlungspolitik für verheerend hält. Schon zum 50. Geburtstag hatte er dem in Sachen Sicherheit wenig zimperlichen Staat in einem Gedicht Waiting for the teacher ins Stammbuch geschrieben: "From this very sand/Where the brotherhood of man was first proposed,/A mist arises, the confusion of unhappy power." Doch eine Ablehnung des Jerusalem-Preises, argumentierte er in einem Gespräch am Vorabend der Verleihung, hätte so ausgesehen, als ob er total auf Seiten der Palästinenser stehen würde. Miller konnte nicht kommen. Das New Yorker MoMA zeigte eine Foto-Retrospektive seiner verstorbenen Frau Inge Morath. Trotzdem nutzte Miller seine Dankesrede, um dem Staat Israel ins Gewissen zu reden. Seine Besatzungspolitik, klagte er in einer Videoaufzeichnung, habe seine ursprüngliche Natur geändert und die jüdische Obsession für Gerechtigkeit beschädigt: Doch sein Aufruf: "It´s time for israelian leadership to reclaim it´s ideal and restore it´s immortal project" wurde mit freundlicher Miene beiseite gewischt. "Of course he is thousands of miles away" befand der immer freundlich lächelnde Uri Lupolianskiy und überreichte dem amerikanischen Botschafter Dan Kurtzner die Urkunde an des Dramatikers Stelle.

Zev Birger focht Millers Kritik nicht an. "Arthur ist mein Freund. Und ich habe auch viel Kritik an der israelischen Politik", gestand mir der 77-jährige am Morgen vor der Preisverleihung auf kritische Fragen zu. "Aber ich habe die Konzentrationslager überlebt." Der kleine, schmale Mann, der gewiefte Kulturimpresario mit den Lachfalten um den Mund grüßt sonst alle überschwänglich, wenn sie nur auf seine Buchmesse kommen - von Moshe Dayan bis Michael Naumann. Jetzt wird er plötzlich sehr entschieden. "Ich weiß, was es heißt, keinen Platz zu haben, wo man bleiben kann. Der Frieden muss kommen. Aber wenn die europäischen Regierungen jetzt nicht die Hassprediger der Palästinenser stoppen, die jedem Schulkind im Fernsehen einbläuen, dass es gut ist, einen Juden mehr zu töten, dann ist das für mich nur noch Antisemitismus".

Ich hätte Zev Birger viel entgegenhalten können. Aber irgendetwas hinderte mich daran an diesem heißen Morgen in Jerusalem. Woran lag es, dass mir die Waffen meiner Argumente plötzlich stumpf vorkamen? 1990 war es mir auf dem Dach eines Jerusalemer Hauses leichter gefallen, zu erklären, warum man gegen den Golfkrieg und für Israel sein kann. Doch damals diskutierte ich mit israelischen Jungsozialisten. Vergangene Woche saß mir ein Mann gegenüber, der das Konzentrationslager Dachau überlebt hatte. Seine Frau und Schwiegermutter waren wie durch ein Wunder in letzter Sekunde den Verbrennungsöfen von Stutthof entkommen. Vom Holocaust war gar nicht groß die Rede auf dieser kleinen Buchmesse - wiewohl er natürlich aus jeder Standritze lugte. Doch für einen Moment unseres Gesprächs sah ich diesen feinen, immer gut gelaunten Herrn der Bücher umringt von einem Berg von Toten.

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