Manchmal sehe ich schon morgens weiße Mäuse. Wenn ich am Südzipfel Kreuzbergs noch traumschwer auf die Straße trete, stehen an der Bushaltestelle meist ein, zwei Rentner. Das Molle-Kühl an der Ecke dünstet den Pilsgeruch von gestern Abend aus. Grauen Blicks strebt man zur U-Bahn. Seyfrieds knollennasige Kontaktbereichsbeamte tapsen hier nicht mehr den Autonomen hinterher. Stattdessen öffnet sich dann und wann ein grünes Stahltor an der ziegelsteinroten Polizeikaserne gegenüber. Acht bis zwölf weißlederne Kradfahrer stoßen im Keil durch den Morgenverkehr Richtung Regierungsviertel. Vor der Markthalle sammelt sich eine Arbeitsgruppe für das Recht auf Faulheit und lässt die ersten Flaschen kreisen. Die Türken an der Ecke besprühen das Gemüse von gestern mit frischem Wasser. Durch diesen Dicksaft der Zivilgesellschaft pflügt die Ehrenstandarte in ihren glänzenden Uniformen wie ein Eisbrecher der Macht. Der echte Kiezbürger lässt sich von solchen Machtdemonstrationen natürlich nicht beeindrucken. Aber irgendwie schielt man doch hinüber und fragt sich: wer braucht wohl heute schnittige Begleitung durch die Hauptstadt?
David Bowie werden sie vermutlich nicht eskortieren. Obwohl er ja eigentlich so etwas wie ein Staatsbesucher aus einer verlorenen Zeit ist. Unauffällig ist er eingeschwebt in den Berliner November. Es gab keine Absperrungen, keine delirierenden Fans. In den siebziger Jahren zogen alle dem androgynen Idol hinterher, wenn er nachts subkulturellen Hof hielt zwischen Schöneberg und Kreuzberg. Damals, ja damals fuhr ihm noch ein Blitz übers Gesicht wie die Grenze durch die Stadt. "Die Mauer im Rücken war kalt" sang er damals, "Schüsse reißen die Luft. Doch wir küssen als ob nichts geschieht. Wir sind dann Helden für einen Tag." Doch Ziggy Stardust, der neonschrille Schizo liegt längst im Staub der Geschichte. In einem coolen Popdandy hat er sich verwandelt, seine Ich-AG an die Börse gebracht.
Heute ist Berlin keine dead-end-street mehr, in der man seine Neurosen als Gesellschaftskritik hätscheln konnte. Die grau gewordenen Fans schauen fremd um sich an der Max-Schmeling-Halle im Prenzlauer Berg. Hier sind wir jetzt nicht mehr an der Grenze der zweigeteilten Welt. Der kalte Wind des Epochenbruchs bläst heute ungehindert von Mauer und Stacheldraht aus Ost nach West. Man merkt, dass den Fans die Identitätsstütze fehlt. Mit der Wende schwand der Mythos. Auf Schönebergs Hauptstraße, Nr. 155, wo David mit Iggy Pop in drogenseliger Gemeinschaft gehaust hat, läuft einem kein heiliger Pop-Schauer mehr den Rücken herunter. Im Erdgeschoss rottet ein Möbeldiscounter, keine Gedenktafel erinnert an die legendäre WG. Ausgerechnet Tekkno-Baby Günther hatte sich plötzlich für den neuen Reality-Appeal des einstigen Helden aus dem Zwischenreich begeistert. Aber dann war er doch enttäuscht, wie glamlos eine Legende da auf abgewetzten Turnschuhen und im zerschossenem Frack in den allernüchternsten Pop-Alltag wechselt: "Langweilig".
Ob sich in Schöneberg noch jemand an ihn erinnert? Die Jungs vom Anderen Ufer, wo David früher an der Theke Whisky trank, haben neue Idole. Am Tresen liegt ein Magazin mit dem Centerfold eines Milchgesichts namens Justin Timberlake. The sexiest man alive ist gerade glücklich der Boyband N SYNC entsprungen. Als Bekenntnis zur Bowie-Losung Rebel, rebel wird man das weiße Muskelshirt mit der Aufschrift Rebell schwer auslegen können, mit dem einer seiner Anhänger den catwalk durch die Mädchenmenge im Velodrom probt. Hier reimt sich Rebellion auf Soft-Eis, alle lassen sich die gefährliche Droge Cornetto-Frucht in ein Hörnchen poppen. Im roten Kapuzenpullover lässt sich der zuckersüße Coconut Kiss des weißen Hip-Hop über die Menge hieven und dirigiert die flüssige Hysterie auf den Rängen. "Also, das ist Berlin?" fragt er, ungläubig wie ein Kind, das merkt, dass die Fernbedienung wirklich funktioniert: "Crazy!". Diesem keimfreien Helden fehlt jede Doppeldeutigkeit. In unserem Teeniekral vor der Bühne ist Mann ein Mann und Frau eine Frau. Und die ruft: "Justin, ich will ein Kind von dir!"
Wir wollen keins, sondern noch einen Whisky Sour in der Haifisch-Bar. Kreuzberg liegt scheinbar friedlich und still. "Du wohnst ja wenigstens sicher", meint Günther und deutet auf das massive Polizeigebäude gegenüber. Das täuscht. Zweimal bin ich hier schon von Jungtürken überfallen worden. Die Pose des late-night-Helden gewöhnt man sich da ganz schnell ab. Und Helden der Rettung sind in solchen Momenten rar gesät. Vor dem Molle-Kühl steht ein schwankender Thekenheld. Der Strandhaubitzen-Blauhelm mit dem schiefen UNO-Barrett und den Kampfstiefeln schaut etwas glasig. Günther steigt aufs Fahrrad und radelt nach Schöneberg. Das Ziegelsteingebäude nebenan steht wie eine dunkel drohende Mauer. Die weißen Mäuse schlafen schon.
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