Ich stinke, also bin ich

Reservephilosoph Camille de Toledo begibt sich auf einen Dritten Holzweg der Philosophie

Erweckung, Umkehr. Von Augustinus bis Hilde Knef - was wäre die Literatur ohne die Bekenntnisse? Camille de Toledo erreichte der Ruf in London. Als der junge Mann aus Frankreich Mitte 1994 durch das Londoner Nordend streifte, traf er in der Claremont-Road auf eine Gemeinschaft von Straßenkämpfern, die sich gegen den Bau einer Schnellstrasse wehrten. Die unerwartete Begegnung muss so tiefe Spuren hinterlassen haben, dass er vom postmodernen Saulus zum politischen Paulus mutierte.

Bis zu jenem historischen Zeitpunkt müssen wir uns den jungen Mann als blasierten Millionärserben vorstellen. Sein Großvater Antoine Ribaud war der Gründer des französischen Danone-Imperiums. Sein langweiliges Leben als Jurastudent auf einer Eliteuniversität und an der London School of Economics kompensierte er dadurch, dass er "ein bisschen auf Fin de Siècle" machte: sich als nuttige Schwuchtel mit Zigarettenspitze maskierte und "am liebsten Mongolenrock" hörte.

Damit war es von einem auf den anderen Tag vorbei, als ihm die "verschrobene Kolonie" in der Claremont Road zu sagen schien: "Trennen Sie sich von ihrer snobistischen Attitüde". Und prompt hat er ihr einen schwülstigen Liebessong namens Archimondain jolipunk gewidmet. In Deutschland sorgt das, wie soll man sagen, Pamphlet, seit ein paar Monaten unter dem programmatischen Titel Goodbye Tristesse für gebremstes Aufsehen.

Es ist sicher kein Zufall, dass die deutsche Autorin Jana Hensel das schillernde Manifest übersetzt hat. Das Etikett der Zonenkinder-Erfolgsautorin haftet so fest an ihr, dass man manchmal vergisst, dass sie gelernte Romanistin ist und in Paris studiert hat. Mit Toledo verbindet sie der Hang zum poetischen Sachbuch. Beide wollen im Grunde Schriftsteller sein. Vor allem aber markieren Toledo und Hensel, beide Jahrgang 1976, ein generatives Dazwischen. Versucht sich Hensel zwischen Ost(algie) und (Ignoranz)West frei zu arbeiten, steckt Toledo in einem ähnlich unbequemen Sandwich: dem zwischen den Alt-68ern und der Postmoderne. Beider Urknall, biographisch wie politisch, war der Mauerfall. Mit dem großen WIR, das beide so demonstrativ benutzen, werben sie um Anhänger für ihren Lockruf der Generationen.

Toledos Buch ist ein einziger Sturmlauf gegen die Postmoderne. Die Rhetorik, derer er sich dabei bedient, bläht sich bisweilen gefährlich. Schon beim ersten Satz: "Meine Seele hat Asthma. Damit meine ich die Gegenwart bereitet mir Schmerzen" muss man tief durchatmen. Bei der Beweisführung gegen die verachtenswerte Ära des "Massendandyismus" hapert es dann etwas. Schon vor Deleuze/Guattari hat ein stattlicher Teil der Menschheit wie ein Snob auf dem Müllhaufen einer zerstörten Welt gesessen und elegante Miene zum bösen Spiel von Hunger und Krieg gemacht. Wenn politische Indifferenz ein hinreichendes Delikt wäre, die Höchststrafe für eine komplette Denkrichtung zu fordern, müsste man noch ganz anderen Epochen den Garaus machen. Und so eindimensional wie Toledo sie darstellt, war die Postmoderne nun auch wieder nicht.

Mag sein, dass ihr Glaube an den körperlosen Nomaden der Netzwelt über das Ziel hinaus schoss. Bei manchen Zitaten von Toledos furioser Abrechnung mit einem furiosen Denker-Duo muss man heute schmunzeln. Auch dass der Post-89er-Kapitalismus die ästhetische Dissidenz mit dem Markt kurzgeschlossen hat, lässt sich heute in jeder Kinowerbung studieren: Da genügt ein Zug aus der Gauloises. Und schon wird man zum Guerillero gegen das Establishment. Aber nur, weil Toledo in den Slums von Kalkutta den Gestank der Armen geschnuppert hat, ist die Virtualisierung der Welt noch nicht ad absurdum geführt. "Es existiert, weil es stinkt" - mit diesem Satz meint er erklären zu können, warum der Körper keineswegs digital verflüssigt ist. Wir haben es bei diesem Buch ganz unverkennbar mit einer olfaktorischen Wende in der Philosophie zu tun. So beherzt wie Toledo hat noch keiner Descartes vom Kopf auf die Nase gestellt.

Es ist im Grundsatz nicht falsch, wenn Toledo sich eine Philosophie des Dritten Wegs zurecht zimmern will. Die Politik der alten Linken, denen Toledo mit einigem Recht vorwirft, die Rebellion verraten zu haben, ist gewiss an ein Ende gekommen. Auch, dass der übermenschliche Heroismus der klassischen (Links-)Avantgarde kein Vorbild mehr sein kann, wird man Toledo zugestehen. Von der D/G-Fraktion will er sich aber auch absetzen. Wie befreit man sich aus dieser Zwickmühle?

Systematisch denkende Philosophen wird das kalte Grausen packen, wenn sie die "Romantik der Offenen Augen" studieren, die Toledo dagegen aufbietet. Seine Rhetorik von der "Wiederbelebung des poetischen Menschen" lässt zunächst aufhorchen. Neu ist das Widerstandsgericht, das er sich da zusammen braut, aber nicht. Wenn er vom Leben in der Revolte schwärmt und davon, "dass über den Wünschen etwas zu haben, der existentielle Wunsch zu sein steht", beißt man auf die auch schon reichlich abgekauten Lorbeerblätter des Existentialismus und der Psychoanalyse. Viel weiter als bis zu Camus und Fromm scheint Toledo nicht gekommen zu sein.

Der fröhliche Eklektizismus, mit dem er da die unterschiedlichsten Konzepte von Seneca bis Subcomandante Marcos zu einem pseudophilosophischen Ratatouille verkocht, trifft freilich eine gängige Bewusstseinshaltung. Als Dokument einer desillusionierten Post-89er-Linken und ihres diffusen Unbehagens, von mir aus auch als schräges Kultbuch, mag dergleichen durchgehen. Als philosophische Grundlegung einer neuen Linken taugt diese krude Mixtur aus Intimschau und Globalschwulst nicht.

"Ich gebe zu, mich ebenfalls an dem Spiel zum Verrat der Körper beteiligt zu haben". Wie jeder Erweckte will dieser Reservephilosoph zu viel auf einmal. Toledo will die Welt von der Herrschaft des Markts erlösen. Er will die Zyniker der Postmoderne zu einer "neuen Unschuld" bekehren. Er will die Gegenkultur aus den Fängen des Kommerzes befreien. Er bläst zum Kampf gegen Fukuyama und George W. Bush. Will aber auch nicht den Versuchungen der Macht erliegen. Vor allem will er die Welt daran erinnern, dass sie Materie, dass sie real ist. Das alles auf gut 190 Seiten. Kein Wunder, dass selbst der wohlwollende Leser in seinen nach links durchdrehenden Philosophiekulturen ins Schwimmen gerät.

Den Widerstand gegen die von der Postmoderne propagierte Entkörperlichung als "Glaube an die Eleganz" zu definieren ist nur ein Beispiel für die Widersprüche dieses Buches. Mit dieser Formel bittet er den gerade lautstark verabschiedeten Dandy über die Hintertür wieder herein. Wie elegant die von ihm bevorzugte Ästhetik der Authentizität in den Temporären Autonomen Zonen ist, ein Konzept, das sich Toledo von dem New Yorker Anarchisten Hakim Bey abgeschaut hat, hätte er sich in Berlin-Kreuzberg, wo er sein Buch kürzlich vorstellte, studieren können. Doch Lesereisen machen eben auch aus wiedergeborenen Materialisten zerstreute Nomaden. Wie man Toledos widerständiges, asketisches Ich, das "verborgen, literarisch, nomadisch" agiert, zu einem unübersehbaren, handlungsfähigen Kollektivsubjekt formt, das wirklich etwas durchzusetzen vermag, bleibt das Geheimnis dieses Autors. Und was sollen die Verdammten von Kalkutta mit dem Satz: "Die Macht sollte uns am Arsch vorbeigehen" oder mit einer "Ontologie des Nutzlosen" anfangen? Spätestens hier beschleicht einen der Verdacht, dass es Toledo doch nur um ein revolutionäres Deckmäntelchen geht, unter dem der europäische Bohemian wieder behaglich die Beine ausstrecken kann.

Als Kulturalisten hören wir es natürlich gern, wenn Toledo die Semantik als entscheidende Triebkraft einer kommenden Revolte ansieht. Die Diskursguerilla der Zapatisten, die Toledo bewundert, ist sicher ein Beispiel von der die europäische Linke einiges lernen könnte. Doch was ist das anderes als eine irtuelle Strategie? Der Kämpfer gegen die Modetorheit der Hybridität hat nun selbst einen veritablen Zwitter geschaffen: nicht Roman, kaum Essay. Der scheitert aber genau an seinen eigenen Essentials: Eleganz und Semantik. Das liegt nicht nur an der etwas holprigen Übersetzung Jana Hensels. Sätze wie "Ich glaube an die Koinzidenz einer Sehnsucht in Reserve und die Reserven der Sehnsucht" häufen sich zu einem blumigen bis wüsten Metaphernsalat. Panic in the streets of London mag ansteckend sein. Doch nicht jeden verwandelt sie gleich zum nouveau philosophe.

Camille de Toledo: Goodbye Tristesse. Bekenntnisse eines unbequemen Zeitgenossen. Übersetzt von Jana Hensel. Tropen, Berlin 2005, 193 S., 18,80 EUR


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