Bekommen wir eine neue Realismus-Debatte? Es sieht ganz danach aus. Die amerikanische Kritikerin Susan Sontag hat den 11. September 2001, den Tag der Terror-Angriffe auf das Word Trade Center in New York, als den "Tag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte" bezeichnet. Und die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla, Augenzeugin der Katastrophe, beginnt ihre Aufzeichnungen der Schreckenstage in New York, die vor kurzem unter dem bezeichnenden Titel: really ground zero erschienen sind (Freitag 3/2002), mit dem Satz: "jetzt also habe ich ein leben. ein wirkliches." Als ob sie vorher keins gehabt hätte. Auch die neue Erzählung von Ulrich Peltzer ließe sich als Vorbote einer neuen Realismus-Debatte interpretieren. Nicht nur wegen
eren. Nicht nur wegen der peinigenden Genauigkeit, mit der hier von einem Nachmittag in New York erzählt wird. Wir schreiben das Jahr 2001. Ein Schriftsteller zieht für ein Jahr von Berlin nach New York. So wie er den in der Stadt an der Spree an jeder Ecke lauernden Spuren der Vergangenheit entgehen und sich jenseits des Atlantiks "neu erfinden" will, zeigt das die Stadt zwischen Hudson und East River einmal mehr als Projektionsfläche. Ihren himmelstürmenden Mythos verdankt sie solchen millionenhaften Hoffnungen, eine abgenutzte Realität zu verwandeln. Peltzers neue Arbeit ist ein klitzekleines Buch von gerade mal 157 Seiten. Doch es birgt den Sprengstoff einer Grundfrage der Kunst. Denn das ganze, scheinbar unspektakuläre Grundmotiv dieser Erzählung ist eine Metapher auf ihr Verhältnis zum Leben. In New York forscht der Autor den Lebensläufen von Einwanderern aus dem 19. Jahrhundert hinterher. "Wie mag der, dem sie gehörte, gewesen sein?" fragt er sich, als er in der Public Library über den Autor nachdenkt, der 1804 mit krakeliger Hand und Federkiel ein Familienregister New Hebrons erstellt. Doch was ist das "Gerippe von Daten" gegen das Leben, das gleich um die Ecke brodelt: Der Koreaner, der in seinem Together Market wie ein Straßenbahnschaffner hinter der ziependen Registrierkasse sitzt, die Hippies, die im East Village zeitlos durch die Gegend schlendern. Je länger der Autor durch die Microfiches auf die altertümliche Schrift schaut, verschwimmen sie ihm zu dem "flirrenden Muster eines abstrakten Gemäldes". Lieber als im Herzen der Stadt am Lesetisch der Bibliothek zu sitzen, lässt er sich durch die Stadt treiben. Was er dabei notiert, sind die Bilder des Unbegreiflichen, die man aus vielen New York-Erzählungen kennt. Glücklicherweise gerät Peltzer die Stadt nicht zum expressionistischen Schauergemälde oder zum Vorschein der Apokalypse. Dafür taucht er zu intensiv in ihr kräftezehrendes Alltagsleben ein. Aber für eine große Metapher reicht es schon. Als der Schriftsteller abends hinter der Public Library auf dem Rasen liegt und auf den Beginn des Open-Air-Kinos wartet, erscheint ihm das Häusergebirge, das den kleinen Bryant Park umschließt, wie ein "bizarres Naturgebilde", dessen Aufbauten "Stufen bilden wie babylonische Zikkurats, sich übereinander türmende, rechteckige Formen in den Himmel schneidende Klötze; als ob man kein Ende gefunden hätte". Und wie noch jeder projektionsgetriebene Europaflüchtling trifft er hier auf die Vermengung von Realität und Fiktion, die einem die Stadt als Abbild der Bilder bestätigt. Beim nächtlichen Streifzug fühlt er sich wie ein Überlebender in einem Science-Fiction-Film. Das eingestürzte Gerüst eines Hochhauses auf der 36. Straße hat er nur als verschwommenen Umriss auf Fernsehschirmen beobachtet. Immer wieder taucht es in diversen Bars, in denen der Flaneur Station macht, auf der Mattscheibe auf - Vorbote eines größeren Schreckens. Peltzers Schriftsteller ist übrigens kein Geringerer als der 1956 in Krefeld geborene Peltzer selbst. Ganz im Sinne seines exzessiven Detailrealismus scheut der sich nicht, uns auch noch mitzuteilen, dass er seinen Hausrat für die Dauer seines New York-Aufenthaltes bei der Spedition Zapf in der Köpenicker Straße in Berlin untergestellt hat. Er begnügt sich aber nie mit einem billigen Eins-zu-eins-Realismus. Realismus ist bei Peltzer aber vor allem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. New York - dieser Strudel aus Biographien und Ereignissen ist Sinnbild und ideale Kulisse. Denn die Beobachtungen des Spaziergängers sind - mitten im Satz - durchsetzt von Erinnerungen an die Kindheit, an den Tod des Vaters, an die Dealerreise mit einem Freund nach Sizilien oder die Erinnerungen an den Beginn und das traurige Ende der Beziehung zu seiner Freundin Sarah. Bewusstsein und Biographie sind ein Mosaik aus Fragmenten, aus Vergangenheit und Zukunft, ein Gewitter synaptischer Kurzschlüsse: keine Linearität, nirgends. Die Verschlingungen des Denkens bilden sich bei Peltzer im Text ab. Gäbe es noch eine Avantgarde, Ulrich Peltzer zählte zu ihr. Man würde sein Buch als eine weitere Übung in der Darstellung des dezentrierten Subjekts abtun, wie er sie schon so glänzend in seinem Berlin-Roman Alle oder keiner (Freitag 5/2000) abgeliefert hat. Käme ihm nicht ein unerwartetes Ereignis in die Quere. Peltzers Protagonist sieht sich in der alten Zwickmühle. Von den Taufregistern über die verblassten Kopien der alten Filme, mit denen sich die New Yorker abends im Freiluftkino an einem anderen Leben amüsieren, bis zu dem Widerschein des Films, bei dem Peltzer im Vorführraum eines Kinos "transparente, wie körperlose und trotzdem reale Figuren über die Verstärkerkästen" huschen sieht - wie ein roter Faden zieht sich durch sein Buch, wie Wirklichkeit und Leben zu Zeichen abstrahiert werden. Und doch lebt der Schriftsteller von der Hoffung, dieses Leben, das einem so unaufhaltsam entgleitet, genau darin aufheben zu können: "Die Geschichte, das Leben. Fände man nur die richtigen Worte, gelänge es nur, alles in Schrift zu verwandeln bis zurück an den Anfang. Besäße man vielleicht einen Zipfel der Wahrheit." Doch sein Schreibprojekt bleibt unvollendet. Schon in seinen früheren Werken versagt sich Peltzer im Wendefieber den Hoffnungen auf literarische Breitwandhistorie. Der Roman Stefan Martinez (1995) spielt kurz vor dem Mauerfall. Auch die Ereignisse des 11. September ff, in die er erst gegen Ende des Buches plötzlich gerät, streifen ihn hart, aber nur tangential. Und sie taugen nicht als Horrorkulisse. Die Toten des 19. Jahrhunderts werden zu keiner lebendigen Fiktion. Und die des 21. Jahrhunderts auch nicht. "Zwei Frauen in zwei Flugzeugen, enge Freundinnen, die zusammen und getrennt voneinander sterben, Turm 1 und Turm 2. Welche trostlose epische Tragödie könnte das Gewicht eines solchen Zusammentreffens aushalten?" fragt der amerikanische Romancier Don DeLillo in seinem Essay über den 11. September: In den Ruinen der Zukunft. Die Kraft des Lebens ist allemal stärker als die Kunst. Ob die Ehrfurcht vor dem einzigartigen Ereignis mit seinen realen Toten den Verzicht auf Literatur rechtfertigt, ist eine unbeantwortete Frage. Vorerst hat der Einbruch der Realität vielen Protagonisten die Fiktion verschlagen. Gegen die Macht eines Ereignisses "ohne Vergleich" kann man nur schwer ankommen. Peltzer schildert einfach nur seinen Schrecken. Und die E-Mails, die er mit seiner Schriftstellerkollegin Kathrin Röggla austauscht, die noch näher am Schreckensort wohnt. So bleibt der Autor im Widerschein des Lebens. Schließlich steht er auf der Straße, betrachtet sein Spiegelbild in einem Schaufenster. In der Hand die Mappe mit den Notizen: "Irgendwelche Blätter, Kopien, Geschichten". Peltzers Buch ist ein Protokoll des Scheiterns. Es gehört zur schönen Dialektik seines Realismus mit imaginärem Boden, dass diese Reise an den Nullpunkt der Literatur uns entgegentritt: als überaus kunstvoller Text. Ulrich Peltzer: Bryant Park. Erzählung. Ammann-Verlag, Zürich 2002, 158 S., EUR 19,90
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