Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Eine Rezension mit dem berühmtesten Satz von Theodor W. Adorno anzufangen, ist immer schwierig. Nicht nur, weil der Meister aus Frankfurt mit der Zeile aus seiner Essaysammlung Minima Moralia eine folgenschwere Maxime begründet hat, deren bloße Erwähnung sofort Depressionen verursacht. Wenn die Gesellschaft als solche so falsch ist, dass ein richtiges Leben nicht möglich ist, was kann man da noch tun? Auch den Autor Adorno als Messlatte anzulegen, kann einem Nachwuchsautor nur schlecht bekommen. Aber was der 1968 in Zürich geborene Daniel Goetsch in seinen Romanen beschreibt, kommt einem doch wie eine Bildstrecke zu dem vor, was der Frankfurter Soziologe im Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben nannte.
Der Held in Goetschs 2004 erschienenem Roman X ist ein junger Mann, der einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat. Er hat sich nach einer sechsmonatigen Schlafkur in einer leeren Wohnung am Rande der Stadt einquartiert. Bei seinen Streifzügen durch die Reviere der Vergangenheit erinnert er sich an seine Kindheit: vaterlos aufgewachsen, in einer Vorstadt, die einem Gefängnis gleicht. Bei der Suche nach seiner ersten Liebe Lea gerät er zudem immer tiefer in den Bann einer Gesellschaft, die aus Drogen, Prostitution und Syndikaten besteht. Briefbomben explodieren, Flüchtlingsströme tauchen am Horizont auf. Das Panorama, das Goetsch in X aufziehen lässt, ist das einer Angstgesellschaft. Der namenlose Erzähler von X fühlt sich einmal, wie er sagt, in einer "Seelenfalle". Kurzum: Eine Szenerie der Beschädigungen, individuell wie sozial.
Daniel Goetsch wurde 1968 in Zürich geboren. Er hat dort und im französischen Toulouse studiert. Seit 1995 erscheinen von ihm Geschichten in Anthologien. 1999 erscheint der erste Roman Aspartam - die Geschichte einer wilden Jugend in Zürich: Hasch, Hass und große Liebe. Das Debüt führte ihn zum Theater. Von 2001 bis 2005 werden fünf Stücke von Goetsch uraufgeführt. Sie spielen in einer Raumstation, einem Reihenhaus, einer U-Bahn - geschlossene Innenwelten, Gehäuse mit Abgrund.
Man merkt schon: Daniel Goetschs Prosa zeichnet etwas aus, was man in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht mehr ganz so häufig findet. ein ausgeprägtes Interesse an sozialer Realität und politischen Konflikten. Vor allem interessiert diesen Autor, wie diese Konflikte die Menschen verändern, wie sie sie wahrnehmen und wie sie durch sie hindurchgehen.
Mitunter hatte der junge Schweizer, der heute in Berlin lebt, dabei noch Mühe, hinter die Oberflächen dieser schönen, neuen Angstgesellschaft zu dringen. Das zeigte Hochdruck im Flachland, die Geschichte mit der er 2000 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettlesen antrat. Doch in dem Bild des Mannes, der sich während der Mittagspause in den verspiegelten Hochhausfassaden des Zürcher Business-Distrikts spiegelt und im Fernsehen immer wieder den blutigen Amoklauf eines Beamten betrachtet, hatte man immerhin das Gefühl, dass darin wenigstens eine Ahnung von den Lebenswelten der New Economy aufblitzte.
In seinem neuen Roman Ben Kader nimmt Goetsch dieses Motiv wieder auf: Der Held des Romans, Dan Kader, ist ein ähnlicher Erfolgstyp, wie er schon in der Klagenfurt-Geschichte auftaucht: Ein 34-jähriger Angestellter einer Agentur mit Freundin und Zukunft, eins von vielen "Wohlstandstierchen", wie er über sich selbst sagt. Versiert bewegt er sich im Zürcher Yuppie-Ambiente: Cocktail-Bars, Kunstausstellungen. Doch auch hier quält den Protagonisten ein unterschwelliges Gefühl des Ungenügens, eine Ahnung vom falschen Leben. Es wirkt nicht aufgesetzt, wenn Goetsch seinen Helden aus dem Gesicht einer Kellnerin Adorno herauslesen lässt: "Darin liegt die ganze Tragik, dachte ich, dass aus dem falschen Leben stets noch das richtige herauszuhören ist, wie es gestimmt hätte, wie sich so ein Leben nicht verfehlt hätte". Auch ohne diesen Wink mit dem Zaunpfahl zeigt Goetsch in solchen Szenen das, was ein Kritiker einmal den "Röntgenblick" des Autors Daniel Goetsch bezeichnet hat.
Eines Tages wird dieser Dan auf die Lebensgeschichte seines Vaters gestoßen. Der ungeliebte Mann liegt plötzlich im Krankenhaus. Als er ihn dort besucht, bittet der ihn, eine Datei mit dem geheimnisvollen Titel AS 1957 aus seinem Computer einer befreundeten Journalistin zu schicken. Wider Willen entschließt sich Dan, den autobiographischen Text zu lesen und macht eine bestürzende Endeckung. 1957 war der Vater Kollaborateur der französischen Besatzer in Algerien. Wie dieser Sohn armenischer Einwanderer namens Bennik Kaderian es mit der Willfährigkeit der Macht gegenüber bis zum Orientalistik-Professor mit dem geänderten Ben Kader an der Sorbonne gebracht hat, das ist ein Musterbeispiel für den gescheiterten Versuch eines richtigen Lebens im falschen.
Oberflächlich betrachtet könnte man Ben Kader auch als politischen Roman lesen. Es geht um den Algerienkrieg, um die französische Vergangenheit in Afrika. Es geht also um Geschichte. Man könnte auch sagen, es geht um den plötzlichen und unerwarteten Einbruch der Geschichte in das Leben eines Mannes, das von Oberfläche und absoluter Gegenwart bestimmt war. Aber es geht um noch etwas anderes.
Dass der Roman in dem Zeitraum von Juni bis September 2001 spielt, ist kein modisches Accessoire wie es die Post-9/11-Literatur zur Zeit gerne benutzt, um zu demonstrieren, dass sie sich auf der Höhe der Zeit befindet. Mit dieser zeitlichen Klammer zielt Goetsch in einer weiteren Ebene seines Romans auf die geistigen Folgeschäden des historischen Ereignisses: die Hysterie der Abgrenzung zwischen den Kulturen mit ihren Essentialismen.
Als Dan während eines Wochenendseminars in einem Tagungshotel auf einen arabischen Küchenjungen trifft, fühlt er sich plötzlich an seine französisch-armenischen Familienwurzeln erinnert. Und sagen nicht selbst seine Kollegen in der Agentur über ihn, er sei gar "kein echter Schweizer"? So wie Goetsch damit die Frage nach der Herkunft aufruft, ist sie aber keine ethnische, sondern eine kulturelle. Denn wenn sich der Folterknecht Bennik Kaderian aus der Falle, die ihm eine algerische Widerstandsgruppe stellt, mit den überraschenden Worten befreien konnte: "Ich bin ein Araber", dann soll das soviel heißen wie: Jeder ist ein Araber. Fremd ist der andere nur, weil wir ihn dazu machen. Das Fremde, die andere Sprache zum Beispiel, können wir uns jederzeit aneignen. Wenn es etwas wie Fremdheit gibt, dann ist sie elementarer. Schon Goetschs Roman X durchzieht mit dem steten Gefühl der Verzweiflung seines namenlosen Protagonisten ein existentialistisches Grundmotiv. Dieses Gefühl grundlegender Entfremdung verlässt auch Dan Kader nie, selbst in seiner Beziehung zu seiner Freundin Miriam, der Dokumentarfilmerin. Und nicht umsonst verteidigt er in einem nächtlichen Streitgespräch mit dem arabischen Küchenjungen Albert Camus gegen Jean-Paul Sartre.
Jedenfalls: Mit seinem dritten Roman ist dem Autor Daniel Goetsch ein beachtlicher Qualitätssprung geglückt. Wie er in diesem Buch Themen wie Identität und Geschichte in korrespondierende Motive auflöst, Erzählfäden und Subtexte ineinander verschlingt - das kann sich sehen lassen in diesem durchwachsenen Bücherherbst. Aber vor allem ist Ben Kader ein ungewöhnlich spannendes Buch, das nicht aus der Hand legt, wer es einmal zu lesen begonnen hat.
Den Königsweg aus dem Adornoschen Dilemma kann sein Held nicht weisen, auch wenn er einmal scherzhaft behauptet, er leite einen "Einführungskurses über das richtige Leben". Immerhin hat Dan Kader gelernt, dass das Stellvertreter-Prinzip nicht funktioniert, auf das Lea aus X noch setzt, als sie dem namenlosen Helden des Romans einmal den Hilferuf "Rette mich!" auf ein Stück Papier kritzelt. Dan hat sich den eigenen Widersprüchen und der eigenen Geschichte ausgesetzt, Das falsche Leben ändert man damit zwar nicht unbedingt. Doch die Rimbaudsche Erkenntnis, die man bei dieser Katharsis erfährt, die Erfahrung, dass Ich ein ganz anderer ist, als man es sich selbst so vorgestellt hat, ist vielleicht ein erster Schritt dahin.
Daniel Goetsch: Ben Kader. Roman. bilgerverlag, Zürich 2006, 254 S., 22 EUR
Daniel Goetsch: X. Roman. Bilgerverlag, Zürich 2004, 159 S., 19,80 EUR
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