Leckere graue Ostschrippe

Unparfümiert Peter Richters fröhliche Wortmeldung "Blühende Landschaften"

Hat der Osten keine Stimme? Wird er unterdrückt, geknebelt und zum Schweigen verdammt? Dass die Legende, der Osten sei aus dem Diskurs ausgestoßen, nicht stimmt, dafür ist Peter Richter der lebende Beweis. Der 1973 in Dresden geborene Autor gehörte bereits im jugendlichen Alter dem Feuilleton der FAZ an. In der Sektion der neuen Meinungsführer Ost ist er nicht der Einzige. Jana Hensel schreibt im Spiegel, Maybrit Illner talkt im ZDF, Wolfgang Thierse sitzt an der Spitze des Bundestages, Angela Merkel führt die CDU. Wenn das keine Anzeichen für eine BRD-Dämmerung sind?! Und nun durfte Richter in seinem ersten Buch alles über die Wiedervereinigung sagen, was sich bislang keiner zu sagen traute. Was wollen die Ossis eigentlich noch mehr?

Sein Debüt ausgerechnet nach der ausgeschlachtesten Phrase der deutsch-deutschen Beziehungskiste, nach Helmut Kohls Blühenden Landschaften, zu nennen, lässt das Schlimmste befürchten. Doch so kann man diesen Euphemismus auch Wirklichkeit werden lassen. Als das publizistische Flaggschiff des Westens die große Krise erfasste, musste der FAZ-Jungredakteur dran glauben. Doch die "Avantgarde des Scheiterns" weiß sich zu helfen: Aus der Not hat der plötzlich Arbeitslose eine Tugend in Gestalt dieses Buches gemacht. Ein schöneres Beispiel, wie man die materielle Krise in Wertschöpfung verwandeln kann, hätte sich der Berliner Soziologe Wolfgang Engler kaum ausdenken können.

Äußerlich betrachtet, schwimmt Richters Buch auf der Welle mehr oder weniger poetisch angehauchter Literatur über, unter und um die DDR der um die Jahre 1970 im Osten Geborenen. Dass der junge Mann "auf dem Wert der eigenen Biographie" besteht, findet unsere ungeteilte Zustimmung. Wie gefährlich nah er an die Grenze gerät, jene ominöse "ostdeutsche Identität" zu rekonstruieren, die es zu DDR-Zeiten vermutlich nie gegeben hat, wird deutlich, wenn er gesteht, wieder häufig sächsisch zu sprechen. Doch anders als seine Altersgenossin Jana Hensel in Zonenkinder umkreisen Richters identitäre Bemühungen nicht nostalgisch das entschwundene Paradies der Kindheit. Furchtlos überspringt er das magische Jahr 1989. Er erzählt von den turbulenten Jahren der Nachwende. Und der böse Blick, den er dabei kultiviert hat, richtet sich gegen Ost wie West.

Bevor sich alle Goodbye-Lenin-selig in die Arme fallen, wird sich Richter wohl gesagt haben, streue ich lieber noch mal Salz in die gesamtdeutsche Ostalgie. Nicht alles, was dem Wendechronisten dabei auffällt, ist besonders neu oder originell. Wie die Geschichte von der "Zonengabi" aus dem VEB Pentacon in Dresden, die erst die Wende herbeiführte und dann in konsumptiver Gleichschaltung versank. Mit dieser Kunstfigur wiederholt Richter die abgegriffenste Allegorisierung des DDR-Bewusstseins im Sog des Epochenstrudels, die sich denken lässt. Treffender und subtiler spießt er die Horizontverengung in der Spießer-DDR auf, wenn er die Isolationshaft der Vietnamesen im Arbeiter- und Bauernstaat beschreibt.

Geradezu mit Röntgenblick durchschaut Richter aber den Westen. 1991 verlässt der junge Mann seine Heimat Dresden und zieht nach Hamburg. Wie jeder gute Ossi will er einmal in einer richtigen Großstadt West leben. Sofort fällt ihm diese Atmosphäre geschichtsloser Gleichförmigkeit und Anästhesie im Alltag ins Auge. In der S-Bahn trinken selbst soignierte Manager Dosenbier. Als er in Harburg aussteigt, blickt er um sich und sieht eine "fahle Wüste aus Muschelkalkzement". Allüberall im Goldenen Westen trifft er auf topsanierte Retrobürgerlichkeit mit "Kacheln auf der Nazivergangenheit", hypertropher Hygiene und einen Hauch DDR: An die Segnungen des "Bankrotteurs-Kapitalismus" der New Economy, wundert sich Richter, glauben die Wessis mit einer "quasikommunistischen Heilserwartung".

Wer sich von der Lektüre seines Buches ein Patentrezept für die "Ausgestaltung der inneren und äußeren Einheit" verspricht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Wenn man einmal von Richters durch die Verfassung leider nicht gedeckten Anregung absieht, für die vielen schönen Gewerbegebiete und Autobahnanschlüsse, die unter dem Rubrum "Aufbau Ost" aus den neuen Bundesländern einen ästhetischen Schrottabladeplatz gemacht haben, "Sprenganträge" zu stellen. Auch einen roten Faden sucht man in diesem wilden Themencocktail von den Hochbetten West bis zu den Drogen Ost vergebens. In der Mischung aus Naturkunde, Lokalgeographie und Vulgärideologie gleicht es einer amüsanten Variante jener - im Untertitel seines Buches anklingenden - Heimatkunde, die die Schulen in der DDR lehrten.

Erstaunlich ist nun aber, dass der studierte Kunsthistoriker darin seinen ziemlich heftigen Aversionen gegen die ästhetische Verfeinerung im Westen so freie Bahn lässt. Auf der einen Seite liebt er das Changieren zwischen den Welten, das ihm die deutsche Einheit ermöglicht hat. Er lobt diesen neu gewonnenen Freiheitsraum als "verspätete Postmoderne". Auf der anderen Seite durchzieht sein Buch die Sehnsucht nach einer neuen Askese in alter Gestalt. Richter mokiert sich über die aufgeblasenen, braun gebrannten Westschrippen und preist dagegen die grauen aber nahrhaften kleinen Ostschrippen. Damit reproduziert er genau jenen stilisierten Osten rauer Ursprünglichkeit und Authentizität, den sich der satte und ausdifferenzierte Westen zurechtprojiziert hat. Nicht jeder Auswuchs der Latte-Macchiato- und Ruccola-Kultur West, die Richter so extensiv geißelt, ist ein historischer Fortschritt. Aber soll man die neu gewonnene Vielfalt reduzieren? Richter spricht selbst vom deutschen Gaumen als dem eigentlichen "Wendegewinner". Vielleicht sollte er sich sein trotzig vormodernes Plädoyer: "Mein Fingerfood heißt Bockwurst" noch einmal überlegen.

So gern man Richters Sottisen gegen Alles und Jeden liest: Niemand wird behaupten können, dieses Buch böte eine literarisch erhebende Lektüre. Zu lapidar steht jeder Satz für das, was er mehr behauptet als bedeutet. Zu groß ist der Hang zum flapsigen Umgangston und bemühten Wortspielchen. In der ästhetischen Grundsatzdebatte nach der Wende: parfümiert oder unparfümiert? hat sich Richter mit seinem schnörkellosen Ton sozusagen auf die Seite der Unparfümierten geschlagen. Dergleichen ist natürlich Geschmackssache. Immerhin lässt sich die Gedankenwelt eines eigenwilligen junge Intellektuellen nachvollziehen, der sich weder der Retro- noch der Anpassungsfraktion zurechnen lassen will. Er will den Osten verteidigen. Aber trotz beißender Kritik am Westen nicht in die ostdeutsche Duldungsstarre fallen: Mit den Worten "Danke, aber ich zahle schon für mich selber" mokiert er sich über den Solidaritätszuschlag. Das ist das Neue an dieser mitteilungswütigen Stimme aus dem Osten.

Peter Richter: Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde. Goldmann, München 2004, 224 S., 17,90 EUR


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