»Das ist vermintes Gelände.« Für Tobi ist Berlin ein echter Hot Spot. Ein halbes Jahr war der Züricher nicht mehr hier. Liebesdinge, unbegrabene. Jetzt traut er sich wieder her. »Mal wieder reden können und so« schreit er mir ins Ohr. Ich verstehe ihn kaum. Der Lärmpegel um uns steigt. Im Schaubühnenfoyer sammeln sich die Premierengäste. Corinna Harfouch hat Christoph Hein unter dem Arm und zieht in einer viel zu dünnen weißen Bluse und mit einem strahlenden Lächeln über den Hof. Nach der Blutorgie in Sarah Kanes Phaidras Liebe soll wenigstens die Premierenfeier unblutig werden. Das Far Out gegenüber sieht aus wie eine Volksbühnen-Deko von Bert Neumann, ist aber ein echter Rest aus den Seventies. Langbeinige Mädels stöckeln an vierschrötigen Bodyguards vorbei. Oben gelen sich ihre Jungs hinter schummrigem Milchglas die Tolle. In der Schaubühne ist gehobener Britpop angesagt. Der DJ packt die Platten aus. Die Lightshow blinkt und die Jeunesse dorée gibt sich die Ehre. Popdandy Moritz von Uslar, gerade hat er George Clooney interviewt, hat den pelzbesetzten Parka abgelegt und küsst mit Pokerface Christina Paulhofer. Die Regisseurin liebt es souverän verschlampt. Premierenfeiern sind grundsätzlich beyond criticism. Alle liegen sich schweißgebadet in den Armen. Nur die Liebe zählt.
Tobi rückt die schwarze Kommunikationsbrille zurecht. Herzschmerzen hin und her. Seine Liebe gilt natürlich eigentlich dem Theater. Wer nicht, wie vor zehn Jahren bei Castorfs Volksbühne, wenigstens ein, zwei Mal in dieses Magnetfeld eingetaucht ist, versteht die Welt nicht mehr. Hier werden die Kulturbatterien aufgeladen. »Ihr habt´s gut«, sagt der Berlinbesucher und saugt den Genius Loci ein, »ihr sitzt ja hier an den Hot Spots.«
Hot Spot? Na ja. Ich habe eigentlich den Eindruck, dass Zürich der neue Hot-Spot ist. Sibylle Berg ist ja schon lange dort. Der Wallpaper Tyler Brule ist wieder da. Uslars Kumpel Stuckrad-Barre ist sofort gekommen, als ihm die Weltwoche ein Appartement und einen Chauffeur für ein paar blasierte Kolumnen angeboten hat. Würden wir auch jederzeit machen. Dann könnte man den ganzen Tag Birnentarte im Cafe Odeon essen und warten, dass die Welt am Zürisee untergeht - bei dreißig Grad im Schatten. Neulich soll Stucki ja seine CD-Sammlung versteigert haben. Wird etwa in Zürich das Popkulturelle Quintett beerdigt, das im Berliner Adlon aus der Taufe gehoben wurde? Nicht so lange die supergeile Street-Parade im Sommer noch tanzt. Und natürlich: Marthaler!
Vor drei Wochen habe ich des sagenhaften Königs Hof bestaunt. Und wen treffe ich bei der Premiere im Pfauen? Als erstes kommt mir Joachim Sartorius entgegen, leicht entrückt, mit wehendem Schal, wie es sich für einen Poeten auf dem Intendantenthron gehört, einen Schwarm Berliner Kritiker im Schlepptau. Plötzlich steht die umwerfende Catherine aus Berlin neben mir. Die managt jetzt in Zürich den Laden. Berliner wohin man schaut. Selbst im City-Hallenbad packt neben mir jemand seine Klamotten in die Plastiktüte eines abgefahrenen Schuhladens vom Hackeschen Markt. Und abends beschallt die ultimative DJane Miss Kittin, die Silvester noch die letzte Nacht im Berliner Ostgut geschmissen hat, den Techno-Tempel der Toni Molkerei.
Berlin-Zürich heißt die neue Luftbrücke. Ein paar von dem Wanderzirkus trifft man immer in den Rosinenbombern eines Billigfliegers. Die Charlottenburgerin Judith Kuckart zum Beispiel. Abends sitzen wir mit ein paar Schauspielern ihrer Off-Produktion im Pferdestall an der Gessner-Allee - natürlich alle aus Berlin! Dann wollen wir noch schnell auf einen Drink in Marthalers neuen Schiffbau. Und wer ist schon da? Die Schaubühne! Gibt gerade ein Gastspiel. Wozu bin ich überhaupt weggefahren? »In Berlin müssen dir erst mal alle sagen, wie scheiße es Dir geht« erklärt die aufgekratzte Bibiana Beglau die besondere Atmosphäre hier. Vor ein paar Monaten haben wir noch am Savignyplatz Cocktails geschlürft. Jetzt wohnt die Schauspielerin des Jahres im Schiffbau. Wenn man von der Frühstücksterrasse des Hotels Storch auf die Limmat schaut, hat man beides: Dorf und Welt. Wahrscheinlich wohnt Hugo Loetscher deswegen direkt um die Ecke. Vor kurzem war er in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg noch ganz neugierig auf die Berliner Hot-Spots. »Was macht Berlin?« fragt er beim Mittagessen im altdeutschen Kropf.
Was hat diese anschwellende Kultur-Osmose Zürich-Berlin nur zu bedeuten?, frage ich mich, als ich nach der Premiere gedankenverloren mit dem 119er-Bus nach Hause gondele. Ich fahre ein paar Stationen zu weit. Plötzlich stehe ich an der Endhaltestelle vor Albert Speers Tempelhofer Flughafen, in fahles Neonlicht getaucht. Davor steht in einer dunklen Grünanlage einsam ein gebogenes Denkmal - die gute alte Berliner Luftbrücke. Vermintes Gelände.
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