Er hat der Kultur einen Ort gegeben." Es hätte nicht viel gefehlt, und Bundeskanzler Schröder hätte seinen flüchtigen Naumann letzte Woche noch als Stifterfigur an den Naumburger Dom gehängt. Nicht nur der paternale Stiftermythos nervte. So oft, wie die scheidende Bundeskulturkrawallschachtel und sein Nachfolger da von der Kultur als dem Motor des nationalen Diskurses schwadronierten, konnte man auch in der sozialdemokratischen Kulturpolitik etwas von der verhängnisvollen deutschen Identitätssucht samt ihrem Hang zur Dominanz durchhören, die auch die Debatte um die Leitkultur so ungeniessbar macht. Die Kraft der Kunst stiftet die Nation - sollte sich diese Idee vom Nutzen der Kultur durchsetzen, könnte die jahrelange neurechte Begriffsstrategie einen kulturellen Erfolg verbuchen, ohne je an der politischen Macht gewesen zu sein.
Fragt man nach der "Kraft der Literatur", wie eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum am letzten Wochenende, könnte man annehmen, dass es mit dieser Unterabteilung der Kultur schlecht aussieht. Natürlich ist etwas dran daran, dass die schönen Künste samt ihren Konsumenten kurz vor dem Ausbruch des Amüsierwahnsinns stehen, so wie sie inzwischen allabendlich als mediales Tiermehl verfüttert werden. Man denke nur an die Marienhof-Fassung von Uwe Johnsons "Jahrestage". Doch soll man deswegen alles in einen Trog werfen?
Heilige Bachmann steh uns bei gegen die Versuchung des Pop! Hinter dem Rundumschlag des Hamburger Autors Rainer Jogschies gegen das "Popgequake" und die Verquickung von Literatur und Film meinte man nicht nur einen ähnlichen Reflex zu spüren wie bei dem denkwürdigen Wutausbruch des Spiegel-Redakteurs Reinhard Mohr gegen die Popliteratur auf einer ähnlichen Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im Frühjahr am Starnberger See. Hinter den Attacken auf deren angeblich armselige Ästhetik war da noch mehr der Widerstand der Generation Joschka zu spüren, ihre kulturelle Hegemonie an die Generation Golf Co. abtreten zu müssen.
Gewiss ist nicht alles literarische Qualität, was popt. Doch abgesehen davon, dass die junge Literatur vielfältiger ist, als Jogschies' vulgärhorkheimersche Suada in Loccum suggerieren wollte. Und dass hier die uraltlinke Dichotomie Moral gegen Unterhaltung wiederbelebt wird. Dahinter klang außerdem ein merkwürdiger Vorbehalt der Kultur-für-alle-Generation gegen ein Aufscheinen des Anspruchsvollen im Niederen. Die Popliteratur mit ihren musikalischen event-Präsentationen und poetry slams will auch eine Synästhesie aus Klang, Wort und Bewegung wiederherstellen. Das ist eine Chance für die Kunst, nicht ihr Niedergang. Der Versuch der neuen Hamburger Literaturgruppe Dogma dagegen, jüngste Pustel des grassierenden Realismus-Fiebers vieler Kulturschaffender, mit ihren abstrusen Schreibregeln, vom Präsenz-Gebot bis zur Höchstzahl von 15 Wörtern im Satz, eine bessere Gegenwart in der Literatur zu kreieren als die Jetztzeit der Popfraktion von Rainald Goetz bis Christian Kracht, krankt nicht nur an ihrem penetranten Anti-Pop, sondern kann auch leicht im Authentizitätskitsch enden. Oder sich reaktionär wenden, wie in des cineastischen Dogma-Papstes Lars von Trier jüngstem Film Dancer in the Dark.
Natürlich, wenn man sieht, wie der Mannheimer Brockhaus-Verlag seine berühmten Lexika-Redaktionen outsourct, seine Programme mit Lifestylekladden auffüllt und das neue "Produktmanagment" in der Kunst auf eine obszöne Spitze treibt, müssen Literaten auf die fatale Kommerzialisierung des Literaturbetriebs mit einer Repolitisierung antworten. Doch der Remoralisierung der Literatur, der Rückkehr zum "Bekenntnis" a la Böll und Grass, die Jogschies vorschwebt, ist das Bekenntnis zur erbarmungslosen diagnostischen Schärfe des Berliner Schriftstellers Christoph Brumme allemal vorzuziehen. Die Moral der Literatur heisst Neugier und Genauigkeit ohne Vorbehalte.
Auch bei dem Reizwort Virtualisierung sollte man die kulturkritische Kirche im Dorf lassen. Die euphorische allerdings auch. Wenn man die Literatur der rechten Internationale im Netz verfolgt, beschleichen einen Zweifel, ob es bald wirklich keine nationale Literatur mehr gibt, nur weil im Internet so viel internationale Nutzer herumschwirren und sich schwer vernetzen. Es klingt etwas traditionell, wenn man den Satz bemüht, dass vor allem gute Literatur Grenzen sprengt, seien es die von Zeit, Raum, Konvention, Nation oder Kommerz. Man ahnt etwas von dieser wahren Kraft der Literatur, wenn man an die Verszeile aus Rainer Kirschs Petrarca-Zyklus denkt: "malvenfarbig dehnt sich der Moment".
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